Aktuelles Interview

Eldbjørg Hemsing

Eldbjørg Hemsing im aktuellen Interview.

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Interview mit Nicholas Carter

Reed Tetzloff

«Ich investiere vor einem Auftritt mittlerweile bewusst Zeit in die Meditation.»

Mit seiner Ernennung zum Chefdirigenten des Adelaide Symphony Orchestra, welches er 2016 bis 2019 leitete, wurde er der erste Australier seit über 30 Jahren, der eines der Orchester des Landes leitet. Von 2018 bis 2021 war Nicholas Carter Chefdirigent des Stadttheaters Klagenfurt und des Kärntner Sinfonieorchesters, wo er viele Neuproduktionen leitete und regelmässig in den Konzertreihen des Orchesters auftrat. Nach seinem Debüt an der Santa Fe Opera mit Die Fledermaus kehrte er 2021 mit Eugen Onegin zurück. Eine wichtige Zusammenarbeit verbindet ihn auch mit der Deutschen Oper Berlin, wo er während zwei Spielzeiten als Kapellmeister tätig war und wohin er regelmässig als Gastdirigent zurückkehrt. Seit der Spielzeit 2021/22 ist Nicholas Carter Chefdirigent der Oper und Co-Operndirektor an den Bühnen Bern.

Sie gelten als sehr vielseitiger Dirigent. Neben Ihrer Tätigkeit als Chefdirigent der Oper und Co-Operndirektor an den Bühnen Bern sind Sie auch immer wieder als Gastdirigent im Konzertsaal zu erleben. Wo fühlen Sie sich mehr zuhause, in der Oper oder im Konzertsaal und warum?
Ehrlicherweise kann ich nicht sagen, dass ich das eine dem anderen vorziehe. Was mir am Dirigieren von Opern besonders gefällt, ist tatsächlich, dass der Fokus sehr auf dem Geschehen auf der Bühne liegt. Bei Opernaufführungen fühle ich mich immer als Teil eines grossen Teams, das gemeinsam eine Leistung erbringt. Natürlich ist es auch im Konzertsaal immer eine Freude auf der Bühne zu stehen und die Musik mit dem Publikum zu teilen - allein schon weil das Repertoire so spektakulär ist. Aber im Konzertsaal gibt es einen anderen Schwerpunkt: die rein abstrakte Ästhetik der Musik und ich empfinde es auch dort als ein grosses Privileg, ein Teil davon zu sein.

Können Sie sich an Ihr frühestes Opernerlebnis als Kind erinnern?

Als Kind war ich Mitglied eines Kinderchors, und eines Tages wurden wir ermutigt, für eine kleine Rolle in Verdis Macbeth an der Opera Australia vorzusingen. Ich hatte das Glück, die Rolle von Fleance und dem Kindergeist zu bekommen und durfte zum ersten Mal die Welt der Oper kennenlernen. Das war das erste Mal, dass ich auf einer Bühne stand. Es war üblich, die Partie des Geistes aus dem Orchestergraben herauszusingen und das war das erste Mal, dass ich vom Klang eines Orchesters umgeben war. Ich wurde vom ersten Moment an süchtig!

Sie sind in Australien aufgewachsen und haben auch von 2016 bis 2019 das Adelaide Symphony Orchestra als Chefdirigent geleitet. Offenbar waren in den letzten 30 Jahren alles ausländische Dirigenten angestellt bei den Orchestern in Australien. Gibt es da so wenige gute Dirigenten?
Es ist eine lange und komplexe Geschichte, warum es so wenige australische Dirigent*innen gibt, die australische Orchester leiteten. Zunächst muss man bedenken, dass Australien ein grosses Land mit einer relativ kleinen Bevölkerung ist. Die klassische Musikszene ist gut etabliert, aber klein. Es gibt sieben oder acht gute Orchester im ganzen Land. Daher gibt es für junge Dirigenten*innen nicht viele Möglichkeiten, sich zu entwickeln und Erfahrungen zu sammeln. Diejenigen, die eine Karriere anstreben, müssen nach Europa oder Amerika gehen, um zu lernen und sich weiterzuentwickeln. Auch ich habe das getan, ähnlich wie auch die australische Dirigentin Simone Young. Mittlerweile gibt es auf der ganzen Welt aber doch einige Australier*innen, die eine Karriere als Dirigent*in gemacht haben. Ein anderer Grund ist vielleicht auch darin zu finden, dass wir Australier*innen normalerweise Menschen sind, die Autoritätspersonen nicht sehr „lieben“. Es liegt an unserer historischen Identität, Menschen gegenüber skeptisch zu sein, die gerne an der Spitze stehen und die Führung übernehmen. Wahrscheinlich bin ich in dieser Hinsicht nicht sehr „australisch“!

Sie haben viele Jahre in Deutschland, Österreich und nun auch der Schweiz gearbeitet. Wo sehen Sie die grössten Unterschiede zu Ihrer Heimat im musikalischen Bereich?
Klassische Musik ist in Australien eine weitgehend importierte Kunstform. Als ich vor zwölf Jahren nach Europa kam, war ich beeindruckt, wie verankert Kultur, Theater und Musik im gesellschaftlichen Diskurs sind und wie sich dadurch auch die klassische Musik stetig weiterentwickelt. Sie scheint mir ein integraler Bestandteil der Gesellschaft zu sein. Auch wenn manche Menschen befürchten, dass heutzutage auch hier die Bedeutung klassischer Musik abnimmt, geniesst sie meiner Erfahrung nach im Vergleich mit Australien immer noch eine viel höhere Wertschätzung. Denn Europa hat diesbezüglich unglaublich viel zu bieten. Wie gesagt, die Spitzenorchester in Australien sind wirklich Weltklasse, aber in Deutschland, Österreich, und der Schweiz gibt es einfach Hunderte mehr! Was uns hier in Europa geboten wird, ist ein wahres Geschenk.

Was vermissen Sie persönlich aus Ihrer Heimat?
Ich vermisse natürlich meine Familie und viele Freunde, die dort leben. Auch das hervorragende Wetter und die herrlichen Strände! Es herrscht eine sehr hohe Lebensqualität dort. Zum Glück darf ich jedes oder jedes zweite Jahr hinreisen, um dort zu dirigieren.

Sie haben in den letzten Jahren viele Neuproduktionen geleitet. Welche hatten für Sie einen besonderen Stellenwert und warum?
Besonders stolz bin ich darauf, dass ich dazu beigetragen habe, den Ring-Zyklus erstmalig in Bern aufzuführen. Wir haben in den letzten beiden Spielzeiten Rheingold und Die Walküre gezeigt, und dieses Jahr kommt Siegfried. Zu Beginn fragten viele Leute, warum wir in Bern in einem relativ kleinen Theater einen Ring-Zyklus aufführen wollen. Zu meiner grossen Freude erreichten uns dann aber begeisterte Reaktionen: zum einen wegen der brillanten Inszenierung der Regisseurin Ewelina Marciniak, aber auch aufgrund des wunderbaren Musizierens des Berner Symphonieorchesters und unserer fantastischen Sänger*innen. Viele Menschen sind extra aus den unterschiedlichsten Ländern, auch aus Übersee, angereist, um zu sehen, was hier in Bern passiert. Auch in der überregionalen und internationalen Presse wurde diese Produktion äusserst positiv aufgenommen. „Mit der Oper in Bern passiert etwas ganz Besonderes“, schrieb ein Journalist. Darauf kann die ganze Stadt stolz sein. Ich bin mir sicher, dass der Berner Ring in den Köpfen vieler Menschen weiterleben wird!

Wenn Sie an die kommenden Produktionen denken, auf welche freuen Sie sich besonders?
Das ist schwierig zu sagen, denn für mich ist jedes Projekt besonders! Unsere nächste Produktion hier ist Jenůfa, eine der herzzerreissendsten und gleichzeitig gruseligsten Opern, die je geschrieben wurden. Und natürlich verspricht das nächste Kapitel unseres Ring-Zyklus - Siegfried - sehr spannend zu werden!

Haben Sie ein Ritual vor einem Auftritt?
Ich habe im letzten Jahr damit begonnen, mentales Training viel ernster zu nehmen. In der Welt des Sports trainiert man ganz selbstverständlich mit den Erkenntnissen von «Performance Psychology» und nimmt diese Wissenschaft sehr ernst. Leider wird in der Musikwelt einfach erwartet, dass man eben „nicht nervös wird“. Das ist nicht gesund und viele meiner Auftritte waren für mich enttäuschend, weil ich nicht im richtigen Gemütszustand war. Deshalb investiere ich vor einem Auftritt mittlerweile bewusst Zeit in die Meditation, um eine hohe Konzentration zu erlangen. Es ist ein Prozess, bei dem man sich auf die Atmung konzentriert, den Kopf von äusseren Ablenkungen befreit und dankbar ist für die Gelegenheit, die kommende Vorstellung oder das kommende Konzert zu dirigieren. Durch dieses Ritual fühle ich mich bei einem Auftritt viel wohler und kann mich von meiner besten Seite zeigen.

Wie erholen Sie sich vom Stress? Was machen Sie privat?
Ich erinnere mich täglich daran, dass es ein Privileg ist, in einem Theater arbeiten und mich mit solch herrlichen Kunstwerken beschäftigen zu dürfen.
Ja, es gibt Momente, in denen der Druck da ist, diese oder jene Oper schnell zu lernen, aber das ist eine sehr privilegierte Form von Stress.
Manchmal muss ich mich daran erinnern, auszuspannen! Lesen, an der Aare spazieren gehen und Zeit mit meiner Familie verbringen, das sind gute Möglichkeiten, um auf dem Boden zu bleiben und stets den Überblick zu behalten.


Interview von Florian Schär | Classicpoint.net | 01.11.2023
Photo: Florian Spring

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