Teodoro Anzellotti im Interview
«Den Akkordeonkoffer meines Vaters durfte man nicht öffnen.»
Über 300 Kompositionen wurden für Teodoro Anzellotti geschrieben. Seit über 30 Jahren ist er auf den Podien zuhause, unterrichet und spielt CDs ein. Er ist massgeblich bei der Integration des Akkordeons von der Folklore in die Klassik beteiligt. Durch extreme Techniken hat er die Klangfarben seines Instruments in einem vorher nicht für möglich gehaltenen Ausmass erweitert.
Classicpoint.ch: Ihr Vater hat bereits Akkordeon gespielt als Sie noch in Italien gelebt haben. Was hat das Akkordeon für Ihren Vater bedeutet?
Zu seinen Lieben und seinem Leben gehörte das Akkordeon. Nach der Emigration wurde es in der Fremde noch wichtiger. Wäre zu seiner Zeit und in seiner Region möglich gewesen, Musik beruflich auszuüben, hätte er diesen Weg sicher eingeschlagen.
Sein Gehör war unfehlbar und hatte tausende Stücke im Kopf. Das bleibt bis heute unauslöschlich in Erinnerung.
Wie sind Sie zum Akkordeonspiel gekommen?
Den Akkordeonkoffer meines Vaters durfte man nicht öffnen. Und wie es so ist bei Kindern, erwuchs aus diesem Tabu eine besonders große Anziehungskraft. Als ich endlich Akkordeon spielen durfte, war ich davon gefangen und von diesem Instrument erstmal kaum wegzukriegen.
Sie sind in Deutschland aufgewachsen. Wenn Sie Deutschland und Ihr Geburtsland Italien vergleichen, wie sind die Unterschiede im Bezug auf das Instrument Akkordeon?
Der breiteren Öffentlichkeit ist die Konnotation des Akkordeons noch eng mit der Folkloremusik verbunden. Ist sie interessant oder anspruchsvoll, hat das Akkordeon einen höheren Status.
In Italien gibt es noch Reste der Volksmusik, die sehr alte Wurzeln hat, z.B. in den neapolitanischen Liedern. Elemente dieser Musik finden sich sogar in Pergolesis Opern mit ihren Uneindeutigkeiten zwischen Dur und Moll, oder Rhythmen aus Tarantellas. Diese Musik wird heute noch gespielt und geliebt – und mit ihr auch die heutige Instrumentalbesetzung und eben auch das Akkordeon. In Italien scheint mir allgemein, dass es weniger Vorurteile und Klassifizierungen gegenüber Kunst oder Künstler gibt.
Im deutschsprachigen Raum hat das Akkordeon noch ein etwas biederes und tumbes Image. Durch Einflüsse und Präsenz verschiedenster Weltmusik ändert sich aber das Bild seit einiger Zeit.
Die Klassik-Liebhaber kennen und schätzen das Akkordeon inzwischen auch als klassisches Konzertinstrument. Vor allem bei Festivals, wo die Neugier, Überraschungslust und Innovationswille größer ist als in Abonnementreihen, sind Akkordeonprogramme bestens akzeptiert, immer mehr gefragt und zu erleben.
In den Neue-Musik-Festivals gehört es heute selbstverständlich zum Instrumentarium.
Sie haben als Kind geübt wie ein Besessener. Ihre Eltern haben Ihnen aus Angst sogar mal das Akkordeon weggenommen und eingesperrt. Was war Ihre Motivation?
Es machte mir unheimlich Spaß und deshalb gab es Zeitweise diese begeisterten Phasen. Das Akkordeonspiel war mit Abstand das, was ich am meisten liebte und ich sicher auch am besten konnte.
Was alles genau diese Leidenschaft auslöste, weiß ich nicht wirklich.
Mehr als 350 Werke wurden für Sie geschrieben. Was fasziniert die Komponisten am Akkordeon?
Das Akkordeon ist ein äußerst flexibles Instrument. Es besitzt eine große klangliche Vielfalt und ist eine Art „Synthese-Instrument“. Man kann es mit allen Instrumentengruppen gut kombinieren oder mischen, mit ihnen verschmelzen oder klanglich auch absetzen. Es hat eine geheimnisvolle und sinnlich anmutende Klangwelt. Es kann delikat, geschmeidig klingen und in den höchsten Lagen noch leicht und auch ordungslos sein, dagegen wieder direkt, grell leuchtend und eine gewaltige Klangintensität und Fülle aufladen, dann wieder fahl oder liturgisch ertönen.
Aber besonders und einzigartig ist, dass es ein polyphones Blas- und Tasteninstrument ist. Die Klänge kann man aus dem Nichts an- und wieder abschwellen lassen. Das Gewicht der Klänge mit beiden Händen, Armen oder dem ganzen Körper formen und erlebbar machen. Es ist ein Instrument, das hörbar und sichtbar atmet und diese Eigenschaft, glaube ich, interessiert besonders die Komponisten und fasziniert die Hörer. Für Andere mag ein gewisser Reiz am Ungewöhnlichen liegen.
Warum haben die Komponisten der ernsten klassischen Musik das Instrument erst jetzt entdeckt?
Erst seit den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts konnte man Konzert-Akkordeons problemlos erwerben. Davor war das nur auf Anfrage als Sonderanfertigung direkt bei manchen Herstellern möglich. Viele wussten bis dahin wahrscheinlich nicht einmal von dieser Existenz. Alban Berg z.B. hatte Probleme, für die Uraufführung seines Wozzeck 1925 einen geeigneten Akkordeonisten zu finden, auf dessen Instrument alles tonhöhengenau und in den richtigen Oktavlagen ausführbar war. Was ihm erst nach langem Suchen gelang.
Oder Sascha Heifetz ließ sich als Akkordeonliebhaber in den 30er Jahren für sich persönlich solch eine Sonderanfertigung in Italien bauen.
Der Unterschied zu konventionellen Akkordeons ist, dass man darauf nicht nur mechanisch vorgefertigte Basstöne mit harmonisch passenden Akkorden spielen kann, was für ein lapidares Spiel praktisch angeordnet und schnell erlernbar ist, sondern auch Einzeltöne über 6 Oktaven besitzt. Alles was für Tasteninstrumente geschrieben wurde, kann man darauf prinzipiell technisch korrekt ausführen. Seit dieser Zeit begann allmählich eine ernst zu nehmende eigenständige Entwicklung der Literatur, und man konnte das Akkordeon in neuen klanglichen wie spieltechnischen komplexen Dimensionen führen.
Natürlich brauchte es dafür auch außergewöhnlich gute, mutige und inspirierende Pioniere, die auf die Komponisten zugingen. Zu Beginn legte man noch Wert darauf, Standards zu setzen. Auch ein pädagogischer Aspekt spielte zu dieser Zeit eine verständliche und wichtige Rolle. Extremes war nicht gesucht.
Mich dagegen treibt die unstillbare Neugier, jeden Winkel des Akkordeons auszuforschen. Klangliche und technische Standards zu hinterfragen; meine Begrenzungen und die des Instruments fortwährend auszuloten, zu erweitern. Daraus, und natürlich mit der Auswahl der Komponisten, entstand eine entsprechende Literatur, Technik, Spielweise und auch Fragen zur Verbesserung des Akkordeonbaus.
In letzter Zeit wurde bei weitem mehr neue Literatur für das Akkordeon komponiert als für jedes andere Instrument. Ist das Akkordeon das Soloinstrument der Zukunft?
Tatsächlich ist inzwischen weltweit eine große Anzahl an interessanter Literatur entstanden. Nicht nur Solostücke, auch Musik für verschiedenste kleinere und größere Besetzungen oder Solokonzerte mit Orchester. Für viele Musiker, vor allem Tasteninstrumentalisten, sind Solostücke oder reine Soloprogramme erst einmal eine naheliegende Herausforderung. Inzwischen gibt es einen Ozean an wunderbaren Solostücken, die unterschiedlichste und interessante Programme zulassen.
Trotzdem glaube ich, dass sich in Zukunft das Akkordeon noch mehr in der Kammermusik entwickeln wird und auch ein festerer Bestandteil der neuen Orchester oder Ensembleliteratur wird.
Sie unterrichten an der Hochschule in Bern und in Freiburg im Breisgau. Wo sehen Sie die Unterschiede der Hochschulbetriebe und der Studenten zwischen der Schweiz und Deutschland?
Im Zuge der Bologna-Reform konnten die Musikhochschulen in Deutschland im Bachelor-Studiengang eine 4-jährige Studiendauer beibehalten. Für das instrumentale Hauptfach ist das eine Studienjahr mehr spürbar.
Die Studenten schätzen in der Schweiz, dass die Kammermusik und auch Neue Musik organisatorisch mehr vorbereitet, eingeteilt und gefördert werden. Projektarbeit und Offenheit für Neues werden unterstützt und fast immer zu öffentlichen Aufführungen geführt. Die Studenten werden allgemein, auch in den Nebenfächern, enger begleitet und betreut.
In Deutschland wird von den Studenten mehr Eigeninitiative, Eigenständigkeit und Flexibilität erwartet. Vieles wird auch informell erledigt.
Doch trotz individualisierter Studieninhalte, Standorte oder Traditionen arbeiten die Hochschulen intensiv daran, besonders in jüngster Zeit, die vielschichtigen Voraussetzungen für das spätere Berufsleben auf einen aktuellen Stand zu bringen und die Studenten dafür bestens vorzubereiten. Zum Beispiel die Existenzform als freiberuflicher „Patchwork Musiker“ - was heute mehr und mehr zur Realität der Musiker gehört.
Wie sieht es beim Nachwuchs aus. Ist die Zahl und Qualität der Akkordeon-Studenten eher zu- oder abnehmend?
Laut Statistik ist das Akkordeon in Deutschland und auch in der Schweiz das drittbeliebteste Instrument bei den Kindern.
In ländlichen Regionen wird es aber noch öfter von nebenberuflichen Lehrern unterrichtet. Die Vorstellung, als Akkordeonist im Hauptberuf tätig zu sein und sich durch ein umfassendes Musikstudium in einer Hochschule auszubilden, ist in diesen Kreisen oder Szenen noch immer etwas ungewöhnlich.
Die Anzahl der Akkordeonstudenten hat sich in den letzten 20 Jahren trotzdem vervielfacht. Die Bewerbungen sind internationaler geworden. Die Qualität hat allgemein deutlich zugenommen. Ein hohes professionelles Spielniveau wird heute um 3-4 Jahre früher erreicht.
In den renommierten Hochschulklassen findet man heute mindestens einen Studenten, der Stücke, die vor 20 Jahren als höchst anspruchsvoll galten und nur wenige Solisten im Repertoire hatten, spielen kann.
Stilsicherheit und Klangqualität haben sich ebenfalls weiterentwickelt.
Viele Instrumente brauchten für eine hoch ausgeprägte Spieltechnik und großer Literatur eine Entwicklungszeit von 200 Jahren. Das Akkordeon durchlief es in einem schwindelerregend hohen Tempo. Wie im Zeitraffer.
Haben Sie auch noch andere Leidenschaften neben dem Akkordeonspiel?
Neben der Familie habe ich nicht sehr viel freie Zeit und versuche, alltägliche Dinge bewusst zu erleben und zu genießen. Schöne Landschaften, Reisen, gut kochen. Oder der Akkordeonbau interessiert mich seit langem. Ich habe da sehr präzise Vorstellungen und Kriterien und habe das Glück gehabt, vor vielen Jahren mit der Werkstatt Bugari einen außergewöhnlichen und für mich richtigen Akkordeonbauer gefunden zu haben. Mit seinen Technikern pflege ich einen intensiven Kontakt. Der Pianist Pierre-Laurent Aimard hat für Dialoge zwischen Instrumentenbauer und Interpreten einen schönen Vergleich gemacht; „Ungefähr so wie mit einem Formel-1-Piloten und seinen Technikern.“
Interview von Florian Schär | Classicpoint.ch | 4.8.2014