Nicolas Altstaedt im Interview
«Ehrlichkeit ist entscheidend bei der Interpretation der Bach-Suiten.»
Der deutsche Cellist Nicolas Altstaedt gehört zu den letzten Schülern Boris Pergamenschikows in Berlin, wo er sein Studium bei Eberhard Feltz abschloss. Mit zahlreichen ersten Preisen bei internationalen Wettbewerben startete er seine Karriere. 2011 wurde ihm auf Vorschlag von Gidon Kremer die künstlerische Leitung vom Kammermusikfest Lockenhaus übergeben. Als vielseitiger Musiker befasst er sich von der historischen Aufführungspraxis über das klassische Cello Repertoire bis zur Auftragsvergabe neuer Werke.
Classicpoint.ch: Sie haben vor 3 Jahren die künstlerische Leitung des Kammermusikfest Lockenhaus von Gidon Kremer übernommen. Was ist das Spezielle an diesem Festival?
Seit Beginn des Festivals haben wir uns in Lockenhaus bis heute immer die Freiheit bewahrt, Konzertprogramme erst am Tag des Konzertes bekannt zu geben. Während des Jahres konzipiere ich ein Thema mit verschiedenen Programmen, welche alle mit unterschiedlichen Ansätzen versuchen, das Sujet zu beleuchten, aber vor Ort gibt es die Gelegenheit, sich erneut und vertieft auszutauschen.
Ich finde es ganz wichtig, sich nochmal bewusst zu werden, warum man eigentlich hier ist und sich mit dem Thema auseinanderzusetzen.
In der Abgelegenheit von Lockenhaus auf der Burgterasse mit Blick auf die Wälder oder im Schlossgarten hinter der Kirche ist das besonders gut möglich. Im gemeinsamen Gespräch kommen ganz andere kreative Ideen auf, die Programme werden neu überdacht und sind manchmal auch aktuell auf das Weltgeschehen bezogen. Es findet eine neue Identifikation mit dem, was man tut, statt.
Gidon Kremer hat Sie selbst als Nachfolger vorgeschlagen. Was verbindet Sie mit ihm?
Gidon ist für mich immer ein Vorbild gewesen, ein herausragender Musiker, der eigene Wege geht und ein integrer Künstler, welcher in all seinen Interpretationen neue Türen geöffnet hat und dabei stets den Partituren dient. Seine Offenheit und sein unprätentiöses Wesen haben mich immer zutiefst fasziniert. Verbunden hat uns sicher auch mein Lehrer Boris Pergamenschikow.
Sie spielen selbst auch mit auf dem Festival. Ist das nicht sehr anstrengend neben der ganzen organisatorischen Belastung?
Sicher, aber auch sehr erfüllend. Alle Gedanken, die sich um so vieles während des Tages kreisen, werden von der Musik im Konzert weggetragen. Ich bekomme auch in den Proben durch die Inspiration der Musik und meiner Freunde ebenso viel Energie zurück wie ich gebe.
Das Kammermusikfest bezahlt keine Gagen. Gibt es auch Künstler, welche deswegen nicht kommen, auch wenn sie als Ausrede vielleicht andere Gründe angeben?
Das weiss ich nicht… Ich frage nur Künstler, zu denen ich eine Verbindung spüre und die mich musikalisch ansprechen. Da haben wir über Honorar nie gesprochen.
Sie beschäftigen sich intensiv auch mit Neuer Musik. Wann ist Neue Musik für Sie gut?
Ich beschäftige mich nicht wirklich intensiv mit neuer Musik. Ich versuche, mich mit guter Musik intensiv auseinanderzusetzen, und da ist auch manchmal Musik von heute dabei. Zu jeder Zeit hat es flache als auch substantielle Musik gegeben, das hat sich bis heute nicht geändert. Ein Werk von Ligeti, die „Romancendres“ von Heinz Holliger oder die Duos von Jörg Widmann können mich dann ebenso beschäftigen wie eine späte Beethovensonate.
Ihnen wurden einige neue Kompositionen gewidmet. Welche gefällt Ihnen besonders gut und warum?
Ich spiele sehr gerne mit Fazil Say seine Cellosonate, weil es immer inspirierend ist, mit einem oder dem Komponisten als Partner zu musizieren. Ebenso sehr liebe ich das wunderbare Duo für Geige und Cello von Thomas Larcher.
Ich freue mich besonders auf das Cellokonzert, welches mein Freund und Cellist Raphael Merlin vom Quatuor Ébène für nächstes Jahr komponiert. Ich schätze ihn unheimlich als Musiker. Uns verbindet eine langjährige Freundschaft und gemeinsame Konzerttätigkeit. Das Werk erfährt dadurch eine weitere Ebene. Für einen Menschen zu schreiben und dann aufzuführen, das gehört zum Intimsten und Allerschönsten überhaupt.
Haben Sie auch selbst schon Stücke komponiert?
Als ich 7 Jahre alt war, habe ich meine Lieblingslektüre, die Odyssee von Homer, als Suite für Cello solo vertont. Es bestand zu grossem Teil aus Shostakovichs 1. Cellokonzert... Bis heute ist es bei den Kadenzen für klassische Konzerte geblieben, aber ich halte mir noch vieles offen.
Verstehen Sie die Leute, zu denen auch viele Musiker gehören, welche mit Neuer Musik nichts anfangen können?
Nein, weil ich den Unterschied zwischen „Neu“ und „Alt“ nicht verstehe.
Sie haben als Student mit dem Cellisten Julian Steckel zusammengewohnt. Können Sie uns eine witzige Anekdote zu dieser Zeit erzählen?
Wir sind damals in ein Haus gezogen, welches kernsaniert wurde. Unsere Wohnung wurde als erstes bezogen. Das Haus stand leer, wir hatten keine Nachbarn. Für ein halbes Jahr war unser Tages-beziehungsweise Nachtablauf sehr auf den Kopf gestellt. Zu der Zeit studierten wir beide bei Boris Pergamenschikow, welcher 4 Monate nachdem wir eingezogen waren starb. Wir fuhren damals von unserer Wohnung ins Krankenhaus zum Unterricht. Es war eine sehr intensive Zeit.
Sie spielen bei den Bachwochen in Thun zwei Solosuiten. Was ist für Sie entscheidend bei der Interpretation der Bach-Solo-Suiten?
Ehrlichkeit. Man muss den Werken den Raum geben, damit sich der ganze Kosmos in ihnen entfalten kann. Es hat viel mit Wahrnehmung, „durchhören“ und „geschehen lassen“ zu tun. Es ist aber auch Tanzmusik und verträgt keinen hinzugefügten Weihrauch.
Interview von Florian Schär | Classicpoint.ch | 3.8.2015
Bild von Marco Borggreve