Martin Stadtfeld im Interview
«Aggressive Kritiken verblüffen mich.»
Martin Stadtfeld hat sich in den letzten 10 Jahren als einer der führenden Interpreten der Musik Johann Sebastian Bachs etabliert. Im Jahr 2002 gewann er den ersten Preis beim Bach-Wettbewerb in Leipzig. Sein 2004 bei Sony Classical erschienenes CD-Debüt mit Bachs „Goldberg-Variationen“ gelangte auf Platz eins der deutschen Klassikcharts und wurde mit dem Echo-Klassik-Preis ausgezeichnet.
Classicpoint.ch: Sie haben zuerst die Goldberg-Variationen eingespielt. Hatten Sie keine Hemmungen, gleich mit diesem Werk zu debütieren?
Als ich 16 Jahre alt war, habe ich die Goldberg-Variationen kennen- und innerhalb von zwei Monaten auswendig gelernt. Seitdem wusste ich, dass ich mit diesem Werk etwas sehr Persönliches ausdrücken kann. Es stand für mich ausser Zweifel, dass es auch mein CD-Debüt sein musste. Weil ich nicht gleich eine Plattenfirma fand, habe ich beim SWR eine Rundfunkproduktion gemacht und zu Sony nach Berlin geschickt. Dort war man angetan, und hat es veröffentlicht.
Bei den Kritikern scheinen Sie stark zu polarisieren. Während Sie von vielen gelobt werden und Preise bekommen, konnte man auch schon sehr vernichtende Kritiken lesen. Wie gehen Sie damit um?
Man muss sicherlich damit leben (können), manchmal auch heftig kritisiert zu werden. Ich lese alle Kritiken, und freue mich, in ernsthaften, ausgewogenen Rezensionen auch kritische Anregungen zu entnehmen. Aber Kritiken, die etwas Agressives haben, verblüffen mich nach wie vor.
Sie sind mit J.S. Bach berühmt geworden. Was fasziniert Sie an der Musik von J.S. Bach?
Es ist für mich nach wie vor die tröstlichste Musik. Bach versteht den Menschen in seinem Glück, seiner Trauer, seinen Wünschen, seinen Enttäuschungen. Er hat alles erlebt, erfühlt, und daraus eine Musik gemacht, die uns an die Hand nimmt. Ich weiss nicht, inwieweit ihm das bewusst war. Wahrscheinlich würde er keine weiterführende Auskunft zu seiner Musik geben. Aber das ist auch gar nicht nötig. Ich plane im Moment einige CD-Projekte mit bedeutenden romantischen Werken (Schumann-Konzert) und hoffe, damit auch meine Sichtweise auf dieses Repertoire zeigen zu können.
Was würden Sie J.S. Bach fragen, wenn er für einen Moment wieder lebendig wäre?
Eine Frage hätte ich an Ihn: Wie stehen Sie zur Kirche?
Haben Sie manchmal Angst, auf J.S. Bach reduziert zu werden?
Kaum. Seine Musik ist ja tatsächlich der Grund, auf dem ich stehe. Von ihm aus gehe ich gleich der Musikgeschichte zu anderen Komponisten weiter. Diesen Ansatz soll man auch gerne hören: Schumann und Chopin nicht retrospektiv von Rachmaninoff aus gedacht, sondern von Bach kommend. Denn Rachmaninoff kannten diese beiden nicht, aber ihren Bach haben Sie fleissig studiert!
Wie stehen Sie zur zeitgenössischen Musik, Sie spielen relativ wenig Werke?
Ich bin immer auf der Suche nach spannenden Werken unserer Zeit. Vor kurzem habe ich den Bochumer Komponisten Stefan Heucke kennengelernt. Er schreibt wunderbare Musik, und ich habe auf meiner neuen Bach-CD, welche vor 10 Tagen erschienen ist, ein Werk von ihm aufgenommen.
Sie machen Schulbesuche und versuchen, die Klassik Kindern und Jugendlichen schmackhaft zu machen. Was machen Sie da genau?
Ich erzähle den Kindern oder Jugendlichen etwas über das Leben von Bach und illustriere das mit Werken meist aus dem wohltemperierten Klavier. Fröhliche Begebenheiten, auch sehr traurige. Das funktioniert sehr gut, weil die Kinder die Authentizität der Musik begreifen. Besonders mit kurzen Werken, die bei Bach immer in einem bestimmten emotionalen Rahmen bleiben.
Was waren die schönsten Erlebnisse bei diesen Schulbesuchen?
Es ist oft berührend, wie die Kinder oder Jugendlichen sich ihrerseits öffnen und aus ihrem Leben erzählen, wenn man über Emotion in der Musik spricht. Und wenn man sie ernst nimmt, als junge Menschen, die das ganze emotionale Spektrum kennen.
Gibt es auch negative Reaktionen?
Eigentlich nie.
Welche Werke hören Sie und welche spielen Sie am liebsten?
Ich spiele natürlich immer leidenschaftlich gerne Musik von Bach. Im Moment besonders gerne aber auch die todtraurige Humoreske von Schumann und die barocken Etüden von Chopin. Gerade höre ich besonders gerne expressiv Romantisches wie Bruckner.
Welche Frage würden Sie sich selbst in einem Interview stellen und wie würden Sie diese beantworten?
Ich finde, Sie haben interessante Fragen gestellt, die mich zum Nachdenken gebracht haben. Es gibt eine Frage, von der ich hoffe, dass sie mir nie wieder gestellt wird: "Sie werden oft mit Glenn Gould verglichen. Wie stehen Sie dazu?"
Interview von Florian Schär | Classicpoint.ch | 1.10.2014