Kim Kashkashian im Interview
«Es ist der Prozess zur Gleichberechtigung der einzelnen Stimmen.»
Kim Kashkashian ist sowohl als international bekannte Solistin wie auch als gefragte Kammermusikpartnerin weltweit unterwegs. Daneben unterrichtete sie immer wieder selbst an Hochschulen. Nach Professuren in Freiburg und Berlin folgte sie im Sommer 2000 einem Ruf des New England Conservatory of Music und kehrte wieder in die USA zurück. Aus ihrer Kooperation mit zeitgenössischen Komponisten entstanden teilweise Erstaufnahmen, die halfen, das relativ kleine Bratschen-Repertoire zu erweitern.
Classicpoint.ch: Ihre Eltern sind aus Armenien ausgewandert. Sie sind in Detroit geboren. Sie haben Werke von armenischen Komponisten uraufgeführt. Was zeichnet die heutigen Komponisten in Armenien aus?
Armenien hatte immer schon einen Fuss im mittleren Osten und einen Fuss in der euro-russischen Tradition und Kultur. Ich erkenne den Ausdruck beider Bezüge in früheren sowie in den heutigen Kompositionen.
Warum haben Sie als Kind von der Geige schon nach wenigen Jahren auf die Bratsche gewechselt?
Der Tonumfang des Instrumentes, die alt-Stimme, hat mich in den Bann gezogen.
Sie sind sehr stark im Bereich neuer Musik engagiert und suchen stets aktiv Komponisten, um sie zu überzeugen, für die Bratsche Werke zu schreiben. Nach welchen Kriterien suchen Sie sich die Komponisten aus?
Ich achte besonders darauf, dass ich mich mit dem emotionalen Ausdruck und der Palette der Klangfarben eines Werks, mit seiner Struktur und seinen Spannungsbögen wohl fühle und identifizieren kann.
Ist es schwer, die Komponisten zu überzeugen, für die Bratsche Werke zu komponieren?
Überhaupt nicht!
Bis zum 20. Jahrhundert gibt es sehr wenig Literatur für Bratsche als Solo- oder Solisteninstrument. Wo sehen Sie die Gründe dafür?
Das ist vielschichtig und hat mit der Entwicklung von Musikstilen zu tun. Die sogenannten Mittelstimmen wurden hauptsächlich als harmoniegebende Füllstimmen benutzt und nur allmählich wurden ihnen auch führende Rollen übergeben. Vergleichen Sie mal nacheinander die Partituren von Haydn, Brahms, Schönberg und Ligeti. Es ist der Prozess zur Gleichberechtigung der einzelnen Stimmen. Bei der Sololiteratur ist die Entwicklung dieselbe.
Von welchem Komponisten wünschten Sie sich am meisten ein Werk für die Bratsche, könnten Sie die Zeituhr zurücksetzen?
Vielleicht Dvorak und natürlich unbedingt Schubert!
Beschäftigen Sie sich auch mit anderen Musikstilen, wie z.B. der Weltmusik oder Jazz?
Jan Garbarek hat mich eingeladen, ein paar seiner Kompositionen zu spielen. Aber ausser dieser Zusammenarbeit habe ich als Interpretin nie einen Fuss in die Jazz-Welt gesetzt. Die Arbeit mit der Volksmusik aller Kulturen hingegen scheint mir einen direkten Bezug zur Klassik zu haben. Letztlich ist es die gleiche Sprache und Grammatik die verwendet wird.
Sie haben sowohl in Amerika, wie auch in Europa gelebt und gearbeitet. Wo sehen Sie die Unterschiede im Bezug auf Ihre Arbeit?
Es scheint immer noch eine grosse Aufspaltung in der Bedeutung der zeitgenössischen Musik zu geben, wo wir ziemlich unterschiedliche Kompositionsrichtungen hören. In den USA haben wir vermehrt begonnen, bei Konzerten informative Teile zu integrieren, bei der die Kompositionen erläutert werden. Das hilft sowohl den Interpreten wie auch den Zuhörern.
Welches Projekt liegt Ihnen derzeit am meisten am Herzen?
Ich habe ein Projekt am Laufen, das sich „Music for Food“ nennt. Dabei generieren Musiker Zuschüsse für jene Musiker, die keine Ressourcen haben. In meiner Heimat hat eine von neun Personen den Hunger als tägliches Basisproblem. Das ist eine unvorstellbare Situation!
Was macht Kim Kashkashian eigentlich, wenn sie nicht Bratsche spielt?
Wenn ich wirklich die Bratsche mal beiseite lege, finden Sie mich in der Akademie für Kung Fu und Tai Chi. Dort versuche ich, meine Fähigkeiten beim Training weiterzuentwickeln.
Interview von Florian Schär | Classicpoint.ch | 02.11.2011
Foto: Claire Stefani