Kent Nagano im Interview
«Das Üben und Lernen hat mir nicht immer Spass gemacht.»
Kent Nagano gilt als einer der herausragenden Dirigenten für das Opern- wie auch für das Orchesterrepertoire. Seit September 2006 ist er Music Director des Orchestre symphonique de Montréal, sein Vertrag wurde kürzlich bis 2020 verlängert. Seit Herbst 2013 ist er Principal Guest Conductor und Artistic Advisor bei den Göteborger Symphonikern. Mit der Spielzeit 2015/16 beginnt Kent Nagano seine Amtszeit als Generalmusikdirektor und Chefdirigent der Hamburger Staatsoper.
Classicpoint.ch: Sie hatten bereits als Kind 12-Stunden-Tage mit Schule, üben und lernen. War das für Sie anstrengend, wie haben Sie Ihre Kindheit und Schulzeit erlebt?
Ja, das Lernen, das Üben macht nicht immer Spass. Und ganz fraglos ist es auch anstrengend. Trotzdem könnte ich nicht sagen, dass das Üben und Lernen mir und meinen Freunden etwas genommen oder uns eingeschränkt hätte. Ich habe das durchaus mit anderen Aktivitäten koordinieren können, wie z.B. Wassersport und Surfen.
Als 8-Jähriger haben Sie bereits den Kirchenchor dirigiert. Was hat Sie als Kind am Dirigieren fasziniert?
Die Musik hat mich interessiert und fasziniert. Und mir ist sehr schnell bewusst geworden, dass man sie gestalten muss, dass sich Klang und Melodie nicht von selbst ergeben, sondern dass es dazu den Menschen braucht und dessen Willen zur Gestaltung und Formung.
Und was fasziniert Sie heute daran?
Der Klang, die Melodie, der Rhythmus – all dies benötigt Gestaltung, gerade im Zusammenhang und Kontext von Werken, die musikalisch grosse Geschichten erzählen, die Bilder oder Dramen darstellen.
Sie waren gut befreundet mit Olivier Messiaen und haben mittlerweile sein gesamtes Konzertwerk auf Tonträger eingespielt. Können Sie uns etwas über Messiaen als Menschen und über seine Musik erzählen?
Messiaen war mir Lehrer, Mentor und Freund, vor allem aber Vorbild. Durch ihn habe ich erfahren, was Musik in ihrem Wesen und als Bedeutung überhaupt ist. Von ihm habe ich gelernt, mich und mein Leben in Beziehung zur Welt, zu den anderen Menschen und eben auch zur Musik zu setzen.
Ihnen ist die breite musikalische Förderung wichtig, nicht nur des begabten Nachwuchses. Wie sollte Ihrer Meinung nach gefördert werden?
Dadurch, dass man denen, die ihre Beschäftigung mit Musik ernst meinen, hilft, zu entdecken und zu erleben, was alles Musik ist, was sie sein kann, was sie uns sagt und wovon sie spricht.
Sie befürchten eine kommende Bedeutungslosigkeit der klassischen Musik und haben darüber auch ein Buch geschrieben. Können Sie uns die wichtigsten Punkte und Ihren Traum der Zukunft erzählen?
Wir müssen die Zugänge zu den Phänomenen der klassischen Musik öffnen und Methoden und Wege finden, wie man diese Zugänge möglichst barrierefrei macht. Wir sollten Wege finden, aus der Anstrengung des Hörens von musikalischen Werken ein Vergnügen zu machen, ein Erlebnis, das durch nichts sonst ersetzt werden kann. Wir sollten Chancen geben auf breiter Ebene, Musik erleben zu können, sie auch als ein Medium zu erfahren, in dem sehr viel von menschlicher Existenz, von Not und Leiden, aber auch von Freude und von utopischen Sehnsuchtsvorstellungen musikalisch erzählt wird.
Wie probieren Sie selbst konkret gegen diese Entwicklung dagegenzuhalten?
Unsere Aufgabe in diesem Zusammenhang kann im wesentlichen nur sein, den Wert von künstlerischer Arbeit und Werkschöpfung, und auch den Wert von künstlerischer Präsentation zu vermitteln. Darin aber müssen wir als Künstler authentisch, ehrlich und wahrhaftig sein. Nur so ermöglichen wir tiefgreifende Erlebnisse.
Am 21. April 2016 feiern Sie Ihre neue Premiere mit der Hamburgischen Staatsoper. Sie bringen die Bachsche Matthäuspassion als „La Passione“ szenisch auf die Bühne. Was dürfen wir erwarten?
Dazu möchte ich zum jetzigen Zeitpunkt nichts sagen. Die Voraussetzungen dieser Produktion sind ungewöhnlich, so ausserordentlich wie es die Leidensgeschichte Christi ist. Doch zugleich ist das Leiden auch etwas ganz Normales; es ist unter den Menschen fortwährend anwesend und bestimmt das Leben.
Sie sollen ein leidenschaftlicher Surfer sein. Kommen Sie noch zum Surfen?
Ja, wenn auch inzwischen höchst selten.
Gibt es noch weitere Leidenschaften abseits der Musik?
Nachdenken über unsere Welt, über die Verhältnisse und über unsere Kinder und ihre Zukunft.
Interview von Florian Schär | Classicpoint.ch | 1.4.2016
© Foto: Felix Broede