Jörg Widmann im Interview
«Wenn ich komponiere, denke ich als Spieler.»
Jörg Widmann gehört zu den aufregendsten und vielseitigsten Künstlern seiner Generation. Zurzeit ist er als Inhaber des „Creative Chair“ beim Tonhalle Orchester Zürich in wechselnder Funktion, als Komponist, Solist, Kammermusiker und Dirigent vertreten. An der Freiburger Hochschule hat er eine Professur für Klarinette und eine Professur für Komposition.
Classicpoint.ch: Sie sind Klarinettist, Dirigent und Komponist. Inwiefern befruchten sich diese Disziplinen gegenseitig?
Wenn ich komponiere, denke ich als Spieler. Ich stelle mir einen Klang physisch vor. Für mich ist ein herausgeschleudertes Bartók-Pizzicato nichts Abstraktes sondern ein Vorgang, der mit Gravitation und Kraft zu tun. Oder der Atem des Bläsers, das hilft mir natürlich beim Komponieren, wenn ich weiss, was möglich ist und wie es funktioniert. Als Spieler entdecke ich in der Musik auch immer wieder neue Dinge, die mich zum Komponieren inspirieren. Das kann bei einer Probe sein, wenn ich ein Register alleine höre und mich ein Klang fasziniert, oder wenn ich einen neuen Sound bei einem Musikerkollegen während dem Einspielen höre, dann frage ich seit frühester Jugend gleich nach. Neue Klänge elektrisieren mich, aber auch wenn keine Musik erklingt, ergeht in mir permanent Musik vor. Umgekehrt achte ich natürlich als Interpret intensiv auf die kompositorische Faktur.
Sie haben in dieser Saison die Funktion des Creative Chair beim Tonhalle Orchester Zürich. Was dürfen wir erwarten und was erhoffen Sie sich?
Ich empfinde es als gegenseitig wunderbare Befruchtung. Gerade im Eröffnungskonzert, bei dem ich meine Elegie für Klarinette und Orchester mit dem Tonhalle-Orchester gespielt habe, war ich begeistert von diesem unglaublich homogenen, weichen Klang, den das Tonhalle-Orchester meiner Musik geschenkt hat. Dieser Klang und die Zusammenarbeit mit dem Orchester in den Proben waren für mich wahnsinnig beglückend. Ich spüre und höre es auch von den Musikern, dass durch die vielen Aufführungen auf Tournee meine Musiksprache immer besser vom Orchester verstanden wird und sozusagen langsam in die DNA des Orchesters übergeht. Wichtig ist mir bei dieser Zusammenarbeit ebenso die Kammermusik mit den Tonhalle-Orchester-Musikern. Es gibt sehr viele unterschiedliche Stücke von mir, welche gespielt werden. Ich freue mich aber auch sehr auf eine kammermusikalische Aufführung des Mozart-Klarinettenkonzerts ohne Dirigenten. Zudem halte ich Vorlesungen und Meisterkurse an der Hochschule. Ich nehme eine solche Residence sehr ernst und möchte mich auch mit Haut und Haaren darauf einlassen.
Wie ergeht es Ihnen bei Uraufführungen Ihrer Werke?
Ich bin schrecklich nervös. Wenn ich als Komponist im Zuhörerraum sitze, dann fühle ich mich total ausgeliefert. Auch wenn die besten Musiker und Dirigenten als Geburtshelfer mitwirken, bin ich so hypersensibel bei eigenen Stücken. Als Musiker auf der Bühne habe ich zumindest die Illusion, es in der eigenen Hand zu haben. Als Komponist gebe ich das Stück bei der Uraufführung weg, es ist nicht mehr nur meins. Das ist ein sehr schmerzhafter und zugleich wunderbarer Vorgang.
Was waren die bisher schönsten Erfahrungen bei Ihren Uraufführungen?
Die unmittelbar zurückliegenden Uraufführungen meiner Orchesterwerke in Paris (das Bratschenkonzert) und in Berlin (das Klavierkonzert) mit den Berliner Philharmonikern wurden beide von den Musikern so wohlwollend und zugewandt aufgenommen. Auch die Probearbeit war sehr beglückend.
Ändern Sie Ihre Kompositionen noch ab bei den ersten Proben, lassen Sie sich von Interpreten beraten?
Natürlich, wenn etwas offensichtlich nicht funktioniert, dann versuche ich, eine bessere Lösung zu finden. Das ist ja auch das Spannende daran, dass ich nicht alles vorhersehen kann. Ich ärgere mich zwar, wenn ich einen Fehler gemacht habe. Ich streite aber auch wahnsinnig gerne und freue mich über emotionale Reaktionen. Das ist mir viel lieber, als wenn es die Leute kalt lässt.
Wie funktioniert bei Ihnen der Kompositionsprozess, wie kommen Sie an Ideen und wie gehen Sie konkret vor?
Mein Problem ist nicht, dass ich zu wenig Ideen hätte, sondern dass ich zu viele Einfälle habe. Meine Aufgabe ist es, diese zu ordnen und ihnen in jedem Stück eine andere stringente Form zu geben. Ideen können überall kommen, sie sind einfach da und haben ihre Daseinsberechtigung. Sie sind nackt, ungeschützt, ja, sogar gewissermassen heilig. Und nun beginnt der Kopf zu arbeiten. Es kommen die Zweifel. Bei meinem Stück „Insel der Sirenen“ zum Beispiel ist die Stückidee, dass man nur in den obersten beiden Oktaven, in stratosphären Registern hört und arbeitet. Der einzige Gedanke, der immer stärker und in mir immer lauter wird, ist, wann kann ich das erste Mal einen tiefen Klang bringen? Wie lange halte ich es ohne aus? Das sind dann wie Giftpfeile in mir drin, welche gegen die ursprüngliche Idee abgefeuert werden. Meistens hemmt mich das und macht mich unglücklich, sodass es einen Magnetismus weg vom Arbeitstisch gibt, weil ich noch nicht so weit bin. Bei jedem Stück gibt es dann aber auch diesen nicht immer nur glücklichen sondern auch schmerzhaften „Point of no return“, wo ich merke, dass der Magnetismus zum Arbeitstisch hin unerträglich stark wird. Bis dorthin ist das meine Inkubationszeit. Das kann Wochen, Monate, ja, bei meiner Babylon-Oper auch Jahre dauern. Ist dieser Punkt aber erreicht, muss ich die Idee aufs Papier bringen. Dann kann ich kaum mehr schlafen oder etwas anderes tun.
Inwiefern sind Ihre Werke politisch?
Nicht alle Werke sind politisch. Meine erste Oper „Das Gesicht im Spiegel“ ist explizit politisch oder die Babylon-Oper, in der es um eine funktionierende, multikulturelle Gesellschaft geht, die zwar arg angegriffen wurde, wo es um den Konflikt zwischen dem babylonischen und dem jüdischen Volk geht, bei der nach dreieinhalb Stunden Oper aber doch so etwas wie eine mögliche Versöhnung angedeutet wird.
Oder meine Messe, welche in Zürich kommt. Da bin ich bei der Gloria-Vertonung fast gescheitert. Die erste Zeile heisst ja „Gloria in excelsis deo“, schön und gut. Die zweite Zeile heisst „et in terra pax“. Das ist, was wir Menschen nicht eingelöst haben, was wir nicht geschafft haben. Und da können wir auch keine Gottheit oder mehrere Gottheiten dafür verantwortlich machen. Das müssen wir selber machen. Das habe ich ganz radikal als ein Antiphon vertont. Das „in terra pax“ kommt in fünfachem Streicherpiano und wird eigentlich dauernd vom Gloria geschlagen. Erst am Schluss kommen sie auf mirakulöse Art dann doch zusammen, wenn es in einer Aufführung gelingt. Ein weiteres Beispiel ist das Kyrie, das 25 Minuten dauert, also der leidende Mensch und die Anrufung eines womöglich abwesenden Gottes. Das ist auch ein klares Statement.
Wenn Sie auf Ihre bisher komponierten Werke zurücksehen, wie beschreiben Sie die Entwicklung?
Ich versuche, mich immer mit meinen Schwächen auseinanderzusetzen und mich weiter zu entwickeln. Als Klarinettist spiele ich ein Melodieinstrument. Ironischerweise hatte ich aber beim Komponieren in meinen frühen Jahren immer ein Problem mit der Melodie, ein Ensemble zum Singen zu bringen. Schritt für Schritt habe ich mir das erarbeiten müssen. Ich habe zu Beginn auch nur für kleine Besetzungen komponiert. Erst später habe ich mich auch an grössere Besetzungen gewagt. Was gleich geblieben ist, ist meine Vorliebe zu einer bestimmten Harmonik.
Interview von Florian Schär | Classicpoint.ch | 1.12.2015
© Foto: Marco Borggreve