Andreas Staier im Interview
«Die Zwischenstufen werden heute zu wenig berücksichtigt.»
Andreas Staier studierte Klavier und Cembalo in Hannover und Amsterdam und war drei Jahre lang Cembalist des Ensembles Musica Antiqua Köln. 1986 begann er seine Solistenkarriere als Cembalist und Pianofortespieler. Er profilierte sich als einer der einflussreichsten Interpreten seines Fachs, der Komponisten von Haydn bis Schumann intellektuell wie emotional neu beleuchtet und zugleich große Literatur jenseits des Repertoires erschliesst.
Classicpoint.ch: Auf was für einem Flügel spielen Sie, und wie unterscheidet sich Ihr Instrument zu einem normalen Flügel?
Ich spiele auf unterschiedlichen Instrumenten. Das kommt auch immer darauf an, wo die Konzerte stattfinden. Bei Konzerten in der Schweiz kann ich z.B. meinen eigenen Flügel nicht mitnehmen, da die Zulassungen für Elfenbein sehr kompliziert sind, und die Importkosten sogar den Anschaffungspreis übersteigen würden. Der Unterschied zu einem heutigen Flügel ist, dass der Korpus viel leichter gebaut ist, die Saiten sind viel dünner mit weniger Zug etc. Ich könnte nun bis ins Detail Unterschiede aufzählen, was aber vermutlich nicht allzu interessant ist. Ich versuche mal, die Aspekte der musikalischen Relevanz anzusprechen. Wenn man die Literatur anschaut, dann lässt sich sagen, dass die Komponisten den Instrumenten, die sie kannten, auf den Leib geschrieben haben. Es gibt wenige Gründe zur Annahme, dass die Komponisten besser komponiert haben als die Instrumentenbauer Instrumente bauen konnten. Vor allem bei den Berechnungen der Pedalangaben sieht man natürlich starke Unterschiede, da ein moderner Flügel den Klang viel länger hält und dadurch schneller ein Chaos entsteht und somit anders eingesetzt werden muss. Der frühere Flügel artikuliert besser und klarer. Das liegt daran, dass die Hämmer damals mit Leder bezogen wurden und nicht mit Filz wie der moderne Flügel. Und nehmen wir als Beispiel einen Flügel aus den 1820er Jahren aus Wien, ein bereits romantisches Instrument, das bestimmte Register hat, die den Klang flüsternd und mondbeschienen einfärben, was der moderne Flügel einfach nicht mehr hat. Zudem haben die Wiener Flügel dieser Zeit zum Teil Gitarrenzüge und 6-7 Pedale, die vor allem in der vierhändigen Literatur eingesetzt werden. Damals wurden die Instrumente je nach Bestellung der Kunden produziert und variieren sehr.
Spielen Sie lieber auf einem original historischen Hammerflügel oder ziehen Sie neu gebaute Hammerflügel vor?
Im Unterschied zu einer Geige hat ein Klavier eine aufwendige Mechanik. Wenn ein Flügel nicht gut funktioniert, so schön er auch ist, dann ist er leider nicht zu gebrauchen. Deshalb muss ein Original schon in einem sehr guten Zustand sein, andernfalls muss man eine gute Kopie finden. Das Problem ist auch, dass oft einzelne Teile nicht repariert werden können. Wenn ein Flügel noch originale Saiten hat, ist es kaum möglich, einzelne Saiten zu ersetzen, da diese dann einfach klanglich zu stark abweichen vom Original. Auch das Leder der Hämmer verändert sich im Laufe der Zeit, unabhängig davon, ob es gespielt wird oder nicht. Es wird härter.
Können Sie mit geschlossenen Augen, rein über das Ohr, ohne den Flügel selbst zu spielen, den Unterschied zwischen einem Original und einer guten Kopie hören?
Das ist schon deshalb sehr schwierig zu beantworten, da früher die Flügel viel weniger standardisiert waren wie heute. Ein heutiger Bechstein unterscheidet sich von einem Steinway oder Yamaha im Vergleich nicht mehr gross. Wenn heute Kopien von sehr gut erhaltenen Instrumenten angefertigt werden, dann klingen diese auf jeden Fall anders, wenn auch nicht schlechter oder besser.
Im 18. Jahrhundert gab es ja neben dem Hammerklavier auch das Clavichord und das Cembalo. Welche Eigenschaften gefallen Ihnen besonders an diesen Instrumenten im Vergleich?
Für mich ist es schwer, die klanglichen Qualitäten der einzelnen Instrumente unabhängig vom Repertoire zu sehen. Ein Wiener Flügel ist für mich so eng mit einer schubertschen Ästhetik verbunden. Da ist ja auch interessant, dass Schubert kein grosser Pianist war und trotzdem dem Instrument besser auf den Leib geschrieben hat als z.B. Beethoven. Bestimmte Facetten aus der französischen Cembalo-Literatur des 17./18. Jahrhunderts sind dem Cembalo so intim auf den Leib geschrieben, dass die wesentlichen Dinge, was den Rhythmus, die Phrasierungen, die Behandlungen der hohen, mittleren und tiefen Regionen angeht und wie eine Komposition instrumentiert ist, das geht alles auf einem modernen Flügel verloren. Da der moderne Flügel heute negativ gesagt farbloser und positiv gesagt ausgeglichener ist. Je klavieristischer eine Musik ist, desto mehr geht verloren. Nehmen wir als Beispiel Couperin oder Chopin. Da geht einfach unglaublich viel verloren. Bei Musik, welche „abstrakter“ konzipiert ist, ist der Unterschied kleiner, auch wenn die Musik nicht unbedingt älter ist. So gibt es z.B. ganz wunderbare Einspielungen vom wohltemperierten Klavier.
Ärgern Sie sich manchmal, wenn Sie z.B. Bach-, Mozart- oder Haydn-Interpretationen hören, welche überhaupt nicht auf historische Aspekte Rücksicht nehmen?
Es gibt natürlich Kollegen, die so spielen, dass es einem relativ egal ist. Es gibt aber auch Kollegen, welche eine völlig andere Ästhetik haben und gleichzeitig so grossartige Musiker sind, dass Gespräche mit ihnen unglaublich interessant sind. Ich habe mich z.B. immer mal wieder mit Alfred Brendel unterhalten und auch auf sehr amüsante Art gestritten, ebenso mit Andràs Schiff. Aber solche Musiker interessieren sich ja auch für historische Aufführungspraxis. Sie ziehen einfach andere Schlüsse daraus. Solche Gespräche bringen mir persönlich sehr viel. Denn aus den Literaturquellen lernt mal viel mehr, wie man es nicht machen soll als wie man es machen soll. Interessant ist ja, wenn man die Quellen mit den ersten Aufnahmen von Enkelschülern von Chopin oder Liszt vergleicht. Da sieht man, dass z.B. bei Brahms viel mehr arpeggiert worden ist als in den Noten steht, und dass darüber in den Quellen gar nichts steht, da das einfach zu dieser Zeit klar war. Das macht mich dann auch demütig, denn wenn wir in der Zeit zurückgehen gibt es leider keine Aufnahmen von Enkelschülern von Bach etc. Insofern werden wir nie wissen, wie Bach gespielt hat. Ich bin sicher, dass, wenn eine Aufnahme von Bach auftauchen würde, die modernen Pianisten ebenso überrascht wie die Aufführungspraxis-Verfechter wären.
Gibt es für Sie ein „no-go“ bei der Interpretation historischer Werke?
Natürlich gibt es das, ja klar. Das ist aber relativ schwierig zu benennen. Vielleicht ein Beispiel: die Tempofrage. Schon bevor das Metronom erfunden worden ist, gab es verschieden lange Pendel zur Tempofixierung insbesondere für Tänze in Frankreich, also für die Balletttänze, die codifiziert waren. Wenn jemand einen Tanz in einem zu weit abliegenden Tempo spielt, dann ordnet sich alles neu. Das Stück wird objektiv ein anderes, weil sich die Beziehung zwischen Details und dem Ganzen verändern. Allgemein lässt sich sagen, dass heute die Zwischenstufen viel zu wenig berücksichtigt werden. Sobald Allegro steht, wird oft ein viel zu schnelles Tempo angeschlagen und wenn Andante vorgeschrieben wird, dann wird oft ein viel zu langsames Tempo gewählt.
Wie erklären Sie sich das Phänomen „historische Aufführungspraxis“, warum entsteht der Wunsch nach historischer Aufführungspraxis erst heute und nicht schon viel früher?
Da ist der erste Weltkrieg ein Zäsur. Bis dahin gibt es viele Pianisten, die einfach in einer gewissen Tradition gespielt haben. Sagen wir z.B. Schüler von Clara Schuhmann oder Karol Mikuli. Sie spielten nur ausgewählte Literatur und diese sozusagen richtig, weil sie diese mit der Muttermilch aufgesogen haben. Irgendwann rissen diese Traditionen ab. Zudem müssen wir die Entwicklung des 20. Jahrhunderts anschauen. Bei der neuen Sachlichkeit bemühte man sich erstmal wieder, die grossen Gefühle draussen zu lassen und Dienst nach Vorschrift zu machen. Dann kam die Idee der Urtextausgaben und danach gab es ein bestimmtes Stadium, in dem man dachte, wenn wir ganz genau die Noten spielen, dann sind wir authentisch. Das nächste Stadium waren dann Leute, wie z.B. Harnoncourt, die gesagt haben: Was machen wir denn in einem Falle wie bei der italienischen Barockmusik, bei der so wahnsinnig wenig notiert ist, wo so viel an Auszierung und Rubato vom Spieler erwartet wurde? Dann kamen die Fragen: Was ist alles nicht notiert aber Teil der musikalischen Sprache einer gewissen Epoche?
Welche Traktate oder Schriften über historische Aufführungspraxis empfehlen Sie einem Klavierstudenten für den Einstieg?
Als Pflichtlektüre rate ich zu Carl Cerny, die grosse Klavierschule. Zudem gibt es mit Youtube ja einen Riesenfundus an alten Filmen. Recherchieren Sie z.B. nach Aufnahmen von Schülern vom Chopin-Schüler Karol Mikuli. Vergleichen Sie die Aufnahmen ganz genau mit den Noten und hören Sie nach dem Aspekt, was spielt dieser Mensch, was nicht in den Noten steht: Wo arpeggiert er, wo verlangsamt er, wie ist die Dynamik etc. Für frühere Literatur muss man die Traktate und Schriften lesen und studieren.
Interview von Florian Schär | Classicpoint.ch | 2.03.2015
Foto Josep Molina