André Rieu im Interview
«Es gibt für mich keine musikalischen Grenzen.»
Seit Mitte der 1990er Jahre reist André Rieu mit seinem „Johann-Strauss-Orchester“ um den gesamten Globus. Er spielt in Stadien und grossen Hallen, da im Schnitt pro Konzert 10.000 Zuhörer kommen. André Rieu interpretiert mit seinem Orchester klassische Stücke in populärer Form und will durch Präsentation und Showeffekte ein möglichst breites Publikum erreichen. Ergänzt wird das klassische Repertoire durch Orchesterversionen von Schlagern und Popsongs. Er setzt neben Beleuchtungseffekten auch viel Technik zur Tonverstärkung und Färbung ein. Die der Ernsten Musik zugewandten Kritiker halten seine Produktionen für musikalisch oberflächlich, da Rieu bekannte Melodien der klassischen Musik nutze, um sie gefällig zu präsentieren.
Classicpoint.ch: Was bedeutet für Sie klassische Musik?
Klassische Musik ist etwas Wunderbares. Ich bin damit aufgewachsen. Mein Vater war Dirigent, und bei uns zu Hause wurde ausschließlich klassische Musik gehört und gespielt, alles – Mozart, Bach, Bartok – das ganze Repertoire. Wir waren sechs Kinder, und alle haben ein Instrument gelernt: Harfe, Cello, Geige oder Klavier. Erst viel später habe ich überhaupt andere Musik kennengelernt, die Stones, die Beatles, ABBA. Aber bis heute liebe ich klassische Musik. Besonders die von Johann Strauss. Sie macht mich glücklich. Ich denke, wir sind uns einig, dass die Welt ohne sie ärmer wäre.
Spielen Sie neben Salonmusik und Walzer auch anderes Klassik-Repertoire?
Oh ja, natürlich. Es gibt für mich keine musikalischen Grenzen. Salonmusik haben wir in unseren Anfangsjahren als Salonorchester gespielt, damals noch in kleiner Besetzung. Aber seit über 25 Jahren habe ich mit dem Johann-Strauss-Orchester das größte private Orchester der Welt, mit rund 60 Musikern, inklusive dem Chor. Die sind alle bei mir fest angestellt. Da kann ich nicht sagen, ich spiele jetzt nur mit 5 Leuten und nächste Woche mal mit 10. Momentan auf Tour spielen wir zum Beispiel O fortuna aus Carmina Burana, Granada, ein Opernmedley, Arien aus Operette und Musicals, Filmmusik – alles ganz bunt. Walzer sind Teil des Abends und gehören dazu, „An der schönen blauen Donau“ ist immer dabei. Aber es besteht bei weitem nicht das ganze Konzert daraus.
Sie werden auch als Walzerkönig der Moderne betitelt und sagen von sich, ein Leben im Dreiviertel Takt zu leben. Wann haben Sie den ersten Walzer in Ihrem Leben gehört?
Ich glaube, so ungefähr mit 8 Jahren. An den Moment kann ich mich noch genau erinnern. Ich war als ganz kleiner Junge immer in allen Konzerten meines Vaters. Er spielte an dem Abend Mahler und Beethoven, dann als Zugabe „An der schönen blauen Donau“ von Johann Strauss. Und plötzlich hat sich im Publikum etwas geändert. Die Leute fingen an zu lächeln, die haben sich gefreut. Das hat mich total beeindruckt. Da spürte ich, dass von dieser Musik ein ganz besonderer Zauber ausgeht. Das hat mich nicht mehr losgelassen.
Können Sie sich vorstellen, ein klassisches Konzert ohne Showeffekte, Klangverstärkung und Beleuchtungseffekte zu spielen oder gehört das für Sie einfach dazu?
Das gehört dazu, weil es die Bilder, die wir wählen, die Musik, im Ausdruck verstärkt. In unsere Konzerte kommen pro Abend rund 10.000 Zuschauer, auf der Stadiontour mit Schloss Schönbrunn in Melbourne waren es an einem einzigen Abend über 38.000. Ohne klangliche Verstärkung geht das natürlich nicht. Aber zum Glück ist die Technik inzwischen so gut geworden, dass man einen tollen Klang auch über Mikrofon erzielen kann. Sinfonieorchester im klassischen Sinne, in Konzertsälen, gibt es ja in jeder Stadt. Ich denke, uns zeichnet aus, dass wir eben etwas ganz anderes machen. Ich sage immer: Ich kann nur groß. Und ich muss auch, denn ich habe 120 fest angestellte Mitarbeiter, die werden das ganze Jahr bezahlt. Ich bekomme ja keine Subventionen.
2009 waren Sie trotz Millionen von verkauften Tickets und CDs mit rund 34 Millionen Euro verschuldet und mussten alles verpfänden. Was hat Ihnen die Kraft gegeben, daran zu glauben, das alles wieder einzuspielen?
Die Schulden hatte ich bereits 2010 überwunden. Sie waren zu Stande gekommen, weil ich Schloss Schönbrunn als Kulisse für meine Konzerte drei Mal habe nachbauen lassen. Das hat Unsummen verschlungen. Nur mal ein Beispiel: 500 Leute haben 5 Tage gebraucht, um das aufzubauen und 3 Tage, um es wieder abzubauen. Wir haben auf der Australientournee 2009 allein 15.000 Hotelzimmer gebucht. Aber ich habe nie daran gezweifelt, dass es uns gelingen würde, die Schulden zu überwinden. Meine Familie hat mich total unterstützt, mein deutscher Promoter und meine Plattenfirma auch, und einer von der Bank hat gesagt „Lasst ihn weiterspielen“. Diese Schönbrunn-Geschichte hat dann auf der ganzen Welt so viel Werbung gemacht, dass 2010 alle Konzerte total ausverkauft waren. So sind wir da wieder rausgekommen.
2010 hatten Sie Gleichgewichtsstörungen und mussten viele Konzerte absagen. Haben Sie darauf in Ihrem Leben etwas verändert?
Ja, und ich muss sagen, das hat mir mehr Angst gemacht als die Schulden, denn Gesundheit ist das Wichtigste, um meinen Beruf ausüben zu können. Dieser Schwindel tauchte ganz plötzlich in der Nacht auf. Alles hat sich gedreht, das war wirklich gar nicht schön. Marjorie und ich haben uns gleich am nächsten Morgen hingesetzt und eine Liste gemacht mit Dingen, die ich nicht mehr tun sollte. Ich habe einfach zu viele Anfragen angenommen: Eröffnungen, Preisverleihungen etc. und fünf Jahre keinen Urlaub... Ich habe mich dann nur auf die Musik konzentriert. Außerdem habe ich meine Ernährung umgestellt und treibe regelmäßig Sport, richtiges Krafttraining. Bis zum Alter von 40 geht eigentlich alles von alleine, aber danach muss man was tun!
Seit Ihrer Kindheit komponieren Sie auch und improvisieren auf der Geige. Komponieren Sie in Ihrem gewohnten Genre oder probieren Sie für sich auch neue Stile aus?
Ich komponiere immer mal wieder, weil es mir total viel Spaß macht. Ich habe nur leider sehr wenig Zeit dazu, weil wir so viel auf Tour sind. Meistens schreibe ich auf Anfrage. Für Donna Leon habe ich die Titelmusik geschrieben. Bei den Olympischen Winterspielen in Sotschi liefen die deutschen Eiskunstläufer zu meinem Arrangement von Chris de Burghs „When Winter Comes“. Und gerade habe ich für einen holländischen Kinofilm komponiert, der in Italien spielt, u.a. eine Tarantella. Also, ich probiere gerne neue Stile aus, ja.
Was entgegnen Sie den Klassikmusikern, welche Ihre Auftritte als populäre Schunkelmusik kritisieren?
Klassische Musik wird, besonders im deutschsprachigen Raum wirklich als „Heiligtum“ betrachtet. Das ist im Ausland nicht so und war auch früher ganz anders. Oper war Unterhaltung, Operette sowieso. Und viele, die mich kritisieren, waren noch nie in einem meiner Konzerte. Mich selbst hat an den Klassikmusikern immer gestört, dass sie so ernst sind. Die spielen die fröhlichsten Werke mit einem Gesicht, als hätten sie Bauchweh. Mein Orchester und ich haben wirklich Spaß da oben auf der Bühne, und das überträgt sich auf das Publikum. Da stehen Leute auf und tanzen, die das seit Jahren nicht mehr gemacht haben. Das ist doch schön.
Sie wurden schon mehrfach bedroht, man wollte Sie sogar entführen. Haben Sie Feinde, oder wie erklären Sie sich diese Gefahr?
Ganz so dramatisch ist es zum Glück nicht. Es gab einmal vor Jahren Morddrohungen von einer Frau, die geistig verwirrt war. Ich gehe auch durchaus ohne Sicherheitsdienst auf die Straße, aber ich habe Security bei öffentlichen Auftritten und meinen Konzerten dabei, aber das ist ganz normal, das haben alle weltbekannten Musiker. Wenn man in der Öffentlichkeit steht, wird man automatisch zum Ziel von Projektionen von Fans. Die meisten sind wirklich wunderbar, ich bekomme so viele tolle Briefe aus der ganzen Welt, aber es kann immer mal vorkommen, dass einer glaubt, man „gehöre“ ihm. Da muss man dann aufpassen.
Ihr Orchester ist auch ein Familienunternehmen, bei dem Ihre Frau und Ihre Kinder im Management involviert sind. Was bedeutet Ihnen Ihre Familie?
Alles. Ich habe mir immer eine Frau gewünscht, mit der ich mich nicht nur privat gut verstehe, sondern auch beruflich zusammenarbeiten kann. Ohne Marjorie hätte ich das gar nicht aufbauen können. Sie hat in unseren Anfängen das Geld verdient. Wir hatten ja zwei kleine Söhne. Es ist wirklich erstaunlich, wie gleich wir denken. Mein älterer Sohn, Marc, ist Maler, der jüngere, Pierre, arbeitet als Manager in meiner Firma. Er ist auch oft bei den Konzerten dabei. Das ist natürlich wunderbar für mich, weil der Beruf doch verlangt, dass man viel reist. So ist immer Familie mit dabei. Meine vier Enkel liebe ich über alles. Die sind so süß, wenn sie versuchen, Geige zu spielen. Die sind jetzt vier und fünf.
Ihre Eltern und Ihre Geschwister waren und sind z.T. auch Musiker. Wie war und ist Ihr Verhältnis zu Ihren Eltern und Geschwister?
Das Verhältnis zu meinem Vater war nicht einfach. Er war auch zu Hause absolut Dirigent. Ich erinnere mich, dass wir einmal ohne ihn in den Urlaub gefahren sind. Plötzlich war die ganze Stimmung anders, viel lockerer. Meine Mutter ist über 90 und noch total fit, ganz toll. Meine Geschwister sehe ich selten, weil ich so viel unterwegs bin. Ein Bruder spielt im Orchester an der Oper von Marseille Cello, dem sage ich immer: „Komm da raus, mach dich selbstständig.“ Denn wir haben mehr Spaß als er (lacht).
Was wünschen Sie sich für die Zukunft?
Eigentlich nur, dass es so weiter geht, wie bisher. Dass ich noch viele Jahre Musik machen kann. Und irgendwann einmal ein Konzert auf dem Mond zu geben.
Interview von Florian Schär | Classicpoint.ch | 3.3.2014