Alexey Botvinov im Interview
«Die Goldberg Variationen sind ein Teil meiner DNA geworden.»
Alexey Botvinov ist in 45 Ländern der Welt aufgetreten, darunter bei Festivals wie dem Chopin-Festival in Polen und bei den Zürcher Festspielen. 2015 gründete Alexey Botvinov das Festival „ODESSA CLASSICS“, dessen künstlerischer Leiter und Präsident er ist. Inzwischen etablierte sich dieses Festival zu den erfolgreichsten in der Ukraine.
Sie haben das ODESSA CLASSICS Festival gegründet, welches sich zum erfolgreichsten in Osteuropa etabliert hat. Was ist Ihr Erfolgsrezept und was ist Ihnen besonders wichtig?
Ich stamme aus einer Familie, die seit mehreren Generationen aus Odessa stammt. Und ich liebe meine Heimatstadt - ihr wahres verstecktes Juwel am Schwarzen Meer. Sie war und ist die kulturelle Hauptstadt der Ukraine. Und eine Stadt mit fantastischem mediterranem Charme, aufgeschlossenen Menschen, die die Kultur lieben und das Leben genießen können. Die legendäre klassische Musiktradition Odessas ist für jeden klassischen Geiger oder Pianisten der Welt bekannt. Ich liebe die Stadt und bin mehr als stolz auf den erstaunlichen Erfolg der letzten 7 Jahre von Odessa Classics. Die Hauptidee war, die Ukraine wieder auf die europäische Festivalkarte zu setzen und kulturelle Verbindungen zwischen Europa und Odessa herzustellen. Ich denke, das ist uns gelungen. Das Festival hat einen sehr guten Ruf unter den Top-Künstlern, die in Odessa aufgetreten sind, und ein großes Publikumsinteresse unter ukrainischen und europäischen Musikliebhabern. Vielleicht war einer der Schlüssel zu unserem Erfolg mein Wunsch, die Qualität des Programms so hoch wie möglich zu halten, das war immer meine oberste Priorität, viel mehr als der finanzielle Gewinn. "Odessa Classics" wurde für mich und meine Frau Elena, die Generaldirektorin des Festivals ist, zu einer Art Besessenheit; wir wollten einfach das beste Festival Osteuropas schaffen. Es war eine ständige Arbeit, 365 Tage im Jahr. Ab 2015 haben wir Odessa Classics jedes Jahr im Juni in Odessa veranstaltet. Es gab 7 Ausgaben, beginnend mit 4 Konzerten 2015, und ab 2018 - bis zu 2 Wochen mit mehreren Veranstaltungen jeden Tag. Neben Konzerten auf großen Bühnen - der Odessaer Oper (1500 Plätze) und der Philharmonie (1100 Plätze), Open-Air-Konzerten auf der legendären Potemkinschen Treppe (bis zu 12 000 Zuschauer) - haben wir Kunstausstellungen, einen Klavierwettbewerb für Jugendliche, ein Programm mit moderner Musik, Lesungen, Literaturprojekte, Theater- und Ballettaufführungen veranstaltet. Und wir haben zweimal das Zürcher Kammerorchester nach Odessa eingeladen, für jeweils 3 Konzerte. Der künstlerische Leiter des ZKO, Stargeiger Daniel Hope, war offizieller "Odessa Classics Artist-In-Residence".
Sie haben mit 19 Jahren als jüngster Teilnehmer den Allunions-Rachmaninoff-Wettbewerb gewonnen. Heut sind Sie Jury Mitglied zum Beispiel beim 5. Internationalen Rubinstein-Wettbewerb. Was ist Ihre Meinung zu Wettbewerben, wo sehen Sie Vor- und Nachteile?
Ich bin kein großer Fan von Wettbewerb in der Musik. Ich denke, das Wesen der Musik ist die gegenseitige Erfahrung von Musiker und Publikum, die harmonisch, freudig und sehr spirituell ist; der Sinn eines jeden Wettbewerbs ist es, einen Gewinner zu finden, was automatisch bedeutet, dass die Mehrheit der Teilnehmer verliert, und das ist keine sehr positive Erfahrung für sie. Aber Musikwettbewerbe sind der häufigste Weg für junge Künstler, ihren Platz in der professionellen Musikwelt zu finden. Ich habe eine recht gute Bilanz meiner Wettbewerbstätigkeit - drei meiner Preise gingen an wirklich wichtige Wettbewerbe - Rachmaninov in Moskau, Bach in Leipzig und Clara Schumann in Düsseldorf. In den 80-90er Jahren, als ich an Wettbewerben teilnahm, gab es viel weniger Wettbewerbe als heute, und sie waren viel spezieller. Es gab keine solche Abwertung des Titels "Preisträger", wie wir sie heute erleben. Ich habe das Gefühl, dass der "Wettbewerbswahn" unserer Tage viel zu weit in die falsche Richtung geht. Wir können in den meisten Fällen sehen, dass junge Musiker nicht ausgebildet werden, um etwas Besonderes zu entdecken, sondern um eine Art professionellen Standard zu erreichen, der ziemlich begrenzt und langweilig sein kann. Als Präsident des "Odessa Classics"-Festivals habe ich im Rahmen des Festivals auch einen Klavierwettbewerb für Jugendliche im Alter von 11 bis 15 Jahren ins Leben gerufen. Und wir haben versucht, unseren Wettbewerb anders zu gestalten - viel freier und offener im Hinblick auf die Suche nach musikalischer Individualität, mehr als nur Virtuosität und Korrektheit. Übrigens wird unser erster Gewinner Roman Fediurko am 19.02.2023 im Zürcher Kunsthaus im Rahmen unseres neuen Festivals "Odessa Classics in Zürich" spielen - ich freue mich sehr, dass dieses große Talent dem Schweizer Publikum vorgestellt wird.
Sie haben mit dem Zürcher Ballett die «Goldberg-Variationen» mehr als 300 Mal live gespielt. Wie hat sich Ihre Beziehung zu diesem Werk entwickelt?
Ich habe die "Goldberg Variationen" bisher 320 mal live auf der Bühne gespielt - ca. 250 mal mit dem Ballett, Choreografie von Heinz Spoerli - meist mit dem Zürcher Ballett, aber auch mit den Ballettkompanien der Deutschen Oper Berlin, der Strassburger Oper und der Mailänder Scala. Und ca. 70 Auftritte - meine Solokonzerte.
Ich erinnere mich, als ich 9 Jahre alt war, bekam ich von meinen Eltern zum Neujahrsfest die Partitur der Kleinen Präludien und andere kurze Klavierstücke von Bach geschenkt. Normalerweise haben Kinder große Probleme mit der Musik von Bach, aber für mich war es Liebe auf den ersten Blick. Ich habe wirklich viel Bach gespielt. Ich träumte davon, am Bach-Wettbewerb in Leipzig teilzunehmen; und es gelang mir, ich wurde Preisträger im Alter von 24 Jahren. Aber ich traute mich nicht, ein Stück anzurühren - die 'Goldberg Variationen'. Natürlich habe ich Glenn Goulds Version gehört und gesehen und sie bewundert, aber ich war mir sicher, dass es ein zu komplexes Stück für mich war. Als ich mit 30 Jahren Heinz Spoerli in Düsseldorf traf und den Vorschlag bekam, dieses Meisterwerk für sein Ballett zu spielen, beschloss ich, dass es an der Zeit ist, in dieses Universum einzutauchen. Denn schon damals war für mich klar, dass "Goldberg" die Spitze des Bachschen Oeuvres ist, und eines der wichtigsten Meisterwerke der Klassik überhaupt. Für mich wurde die Arbeit an den Variationen zur größten Herausforderung in meinem Musikleben; aber sie geht weiter. Bei jedem neuen Konzert eröffnet mir dieses Stück eine neue Facette; es ist eine ganz besondere, einzigartige Musik. Ich habe das Privileg, es so oft live auf der Bühne aufzuführen - fast ein ganzes Jahr lang jeden Abend -, dass es Teil meiner DNA geworden ist.
Sie haben mit Daniel Hope drei sehr erfolgreiche Aufnahmen mit Werken von Schnittke, Silvestrov und dem «Music for Ukraine Projekt» eingespielt. Wie war die Zusammenarbeit?
Es ist ein großes Glück, einen musikalischen Partner zu finden, mit dem man die gleiche musikalische Sprache spricht, der die eigene Vision und die eigenen Ideen teilt. Meine künstlerische Zusammenarbeit mit Daniel Hope ist eine der aufregendsten und unbezahlbarsten kreativen Errungenschaften in meinem Leben. Es ist erstaunlich, aber wenn wir anfangen, ein neues Stück zusammen zu spielen, brauchen wir nicht über die Musik zu reden, alles läuft wie am Schnürchen, im gleichen Fluss, und es ist einfach unglaublich. Dieses Gefühl des gemeinsamen Musizierens, wenn alles natürlich und freudig ist, ist außergewöhnlich.
Wir haben auf Konzerten sehr unterschiedliche Musik gespielt - romantische, alte, moderne, Jazz. Für besagte Aufnahmen für die Deutsche Grammophon wollte Daniel mit mir sehr moderne Musik aufnehmen. Ich würde sagen, das ist wahrscheinlich die schwierigste Entscheidung für eine große Plattenfirma, aber ich denke, wir haben es gut gemacht. Zum Beispiel war der weltweite Erfolg der Schnittke-Aufnahme so überwältigend, dass er selbst uns und die DG überrascht hat. Und in diesem dramatischen Jahr haben wir zwei Aufnahmen mit ukrainischer Musik gemacht, was sehr logisch war; aber ich muss sagen, dass die Silvestrov-Aufnahme schon lange geplant war, vor dem schrecklichen Krieg, der diesen Februar begann. Eigentlich steckt hinter beiden CDs die Idee, dass moderne Musik für ein breites Publikum sehr aufregend sein kann; dass wir in unserer heutigen Musik Melodien von ewiger Schönheit finden können, dass moderne Musik sowohl für ein anspruchsvolles Publikum als auch für sehr "einfache" Musikfans lebt. Wenn ich also etwas Kurzes und Wesentliches über unsere Zusammenarbeit mit Daniel sagen soll, kann ich nur sagen, dass er für mich ein "Traumpartner" in Sachen Musik ist.
Sie haben bereits in über 46 Ländern Konzerte gegeben. Welche Orte waren für Sie besonders speziell und warum?
Ja, als ich ein Kind war, hatte ich zwei große Träume: Konzertpianist zu werden und die Welt zu sehen (was zu Sowjetzeiten, als ich aufwuchs, eine ziemliche Herausforderung war). Ich kann sagen, dass ich ein glücklicher Mensch bin, weil meine beiden Träume wahr geworden sind. Ich genieße das Reisen, das zu meinem Beruf gehört, total. Es ist wirklich aufregend, die Reaktion des Publikums zu erleben, z. B. bei denselben Musikstücken in Ländern mit völlig unterschiedlichen kulturellen, sozialen und religiösen Hintergründen. Man kann sehen, wie einzigartig klassische Musik ist, die echtes Esperanto ist, weil die Reaktion des Publikums dieselbe ist. Sogar in Ländern wie Indonesien, Malaisien oder Thailand, wo sich die Klassik erst langsam ihren Weg auf die großen Bühnen bahnt. Zu den besonderen Konzertorten gehört zum Beispiel einer in der Schweiz - die Villa Senar, wo ich die Ehre hatte, auf dem legendären Rachmaninov-Steinway" zu spielen: Als ich noch ein Kind war und mich auf den Rachmaninov-Wettbewerb vorbereitete, las ich von diesem Uno-Klavier, und ich hätte nicht einmal zu träumen gewagt, dieses Instrument einmal in meinem Leben zu berühren. Das war eine ganz besondere Erfahrung für mich - und dieser Flügel ist wirklich etwas ganz Besonderes, auch heute noch. Natürlich sind alle großen Säle wie die Berliner Philharmonie oder die Londoner Wigmore Hall oder die Mailänder Scala usw. etwas Besonderes, und man erinnert sich an seine Auftritte dort. Man spürt den Charakter und die Energie dieser Orte, man fühlt sich selbst als Teil ihrer riesigen Musikgeschichte, und das macht solche Erfahrungen zu etwas Besonderem. Aber am aufregendsten finde ich wahrscheinlich die verschiedenen Open-Air-Bühnen. Jedes Konzert in einer guten Open-Air-Location ist etwas Besonderes. Denn dort spüre ich auch die Magie des Ortes, die Verbindung mit der Natur oder der Stadt, das ist ein unvergessliches Gefühl. Letzten Sommer habe ich 2 Rachmaninov-Konzerte in den Bergen und Wäldern des italienischen Val Saisera gespielt. Während ich spielte, hatte ich das Gefühl, in einem Märchen zu sein, es war unvergesslich. Übrigens habe ich mehrere Open-Air-Konzerte in Murten gespielt, und es war auch pure Magie - der häufigste Ort dort ist der Hof des alten Schlosses, aber einmal habe ich Tschaikowskis "Jahreszeiten" gespielt, ganz in der Nähe des Flusses, das Klavier stand praktisch auf dem Gras, es war früh am Abend - solche Konzerte kann man nicht vergessen, niemals. Ich bin sehr stolz darauf, dass "Odessa Classics" es geschafft hat, mehrere Open Airs in Odessa auf der legendären Potemkinschen Treppe zu veranstalten, mit mehr als 10 000 Zuhörern. Ich denke, dass dieser Ort einer der aufregendsten Orte für klassische Musik in der Welt ist. Diese Konzerte waren zweifellos Höhepunkte in meinem musikalischen Leben - als Pianist und als Kunstmanager.
Was ist mit ihrem Festival seit dem Kiregsausbruch in der ukraine passiert?
Wegen des Krieges war es natürlich unmöglich, die Odessa Classics in der Ukraine zu veranstalten, und wir beschlossen, dass es die richtige Idee wäre, das Festival an einen anderen Ort in Europa zu verlegen. Denn schon der Gedanke, dass unser Festival, das zur wichtigsten Plattform für klassische Musik in der Ukraine wurde, einfach eingestellt werden könnte, war unerträglich. Aber mit Hilfe meiner musikalischen Freunde ist es uns tatsächlich gelungen, sehr erfolgreiche Festivals unter unserer Marke in Estland, Griechenland, Deutschland und Litauen zu veranstalten.
Als wir in der Schweiz landeten und klar war, dass es dieses Jahr keine "Odessa Classics" in Odessa geben würde, war unser Ziel, das Festival in diesem Jahr mit einem "Programm-Minimum" von 3-5 Konzerten in Europa stattfinden zu lassen. Am Ende haben wir es geschafft: 17 Konzerte auf höchstem Niveau in 4 Ländern, mit Star-Künstlern wie Daniel Hope, Pinchas Zukerman, Thomas Hampson usw., drei nationalen Symphonieorchestern, Übertragung der Eröffnungsnacht in Tallinn mit ARTE TV Europaweit und und und. Also, es war eigentlich ziemlich unvorhersehbar, dass sich der Erfolg des Festivalprojekts ausweiten würde. Und da ich jetzt mit meiner Familie in der Schweiz lebe, war es eine ganz natürliche Idee, das Festival auch hier zu realisieren.
Finden in der Ukraine aktuell noch Konzerte statt?
Das ist sehr schwierig. Viele meiner Kollegen sind jetzt in ganz anderen Ländern in Europa oder den USA. Es gibt viele Städte in der Ukraine, die so zerstört sind, dass es unmöglich ist, über kulturelle Veranstaltungen zu sprechen. In einigen Städten wie Kiew, Lwiw, Odessa gibt es einige kulturelle Aktivitäten, aber meist in sehr kleinen Orten. Auch Operntheater versuchen, Aufführungen zu machen, aber selbst wenn sie beginnen, müssen in vielen Fällen nach einigen Minuten alle - Künstler und Publikum - in Bunker (oder einfach in große Keller) gehen, um zu warten, bis die Sirenen des Bombenalarms aufhören. So wie es im Zweiten Weltkrieg war. Und danach müssen alle nach Hause gehen... Natürlich wollen die Menschen Kultur, aber jetzt ist wirklich keine gute Zeit dafür, wenn die ganze Ukraine unter ständiger Bombendrohung steht und viele Orte furchtbar zerstört sind.
Sie leben zurzeit in der Schweiz. Wieso haben Sie sich für diesen Wohnort entschieden?
Als Berufsmusiker war ich schon über 25 Jahre sehr stark mit der Schweiz verbunden - es gab eigene Konzerte, und natürlich 17 Jahre Zusammenarbeit mit dem Zürcher Ballett unter Heinz Spoerli - für mich war die Schweiz schon lange eine zweite Heimat. Ich liebe dieses Land, habe viele Freunde, kannte Zürich sehr gut, war immer ein großer Bewunderer des schweizerischen demokratischen Systems. Aber ich hatte keine Pläne, die Ukraine zu verlassen. Der Krieg hat alles verändert, und meine zweite Heimat wurde zur ersten.
Haben Sie neben der Musik noch andere Leidenschaften?
Ich liebe es zu reisen, das ist meine große Leidenschaft. Aber auch viele andere Dinge -, zum Beispiel Literatur und Kino sind wahrscheinlich die spannendsten Aspekte meiner Interessen neben der Musik.
Interview von Florian Schär | Classicpoint.net | 01.02.2023