Widerstehe doch der Sünde
BWV 54 zum Sonntag Okuli
Als Fokus des Monats März präsentieren wir Ihnen die Kantate BWV 54 «Widerstehe doch der Sünde».
Textbuch und Besetzungsliste lassen wenig Spektakuläres erwarten. Zwei Arien, die ein Rezitativ umschliessen – das entspricht der kürzestmöglichen Umsetzung jenes neuen Typus «Geistlicher Cantaten statt einer Kirchen-Music», den der Theologe Erdmann Neumeister und seine Nachahmer unter Auslassung von Bibelwort und Choral kurz nach 1700 entwickelten. Besetzt mit Soloalt, Streichern und Continuo verzichtet das Stück auf jede stimmliche Abwechslung oder kontrastierende Klangfarbe; der fünfstimmige Streichersatz mit geteilten Violen gemahnt an die Klangwelt des 17. Jahrhunderts und verspricht damit eher eine handwerklich solide Arbeit denn einen Geniestreich.
Doch was hat Bach aus dieser konventionellen Anordnung gemacht! Bereits die allerersten Töne der Eingangsarie zeigen: Hier ist nichts mehr vorhersehbar, sondern buchstäblich alles aus den Fugen. Kaum vermag das Ohr zu glauben, von welch «falschem» Akkord das Stück seinen Ausgang nimmt; die schneidende Dissonanz lässt an die Erbsünde als unentrinnbaren Urgrund allen Lebens denken. Kein Zufall, dass – einer Vermutung Friedrich Smends zufolge – Bach diese einzigartige Musik für die Arie «Falsche Welt, dein schmeichelnd Küssen» seiner Markuspassion von 1731 und 1744, von der nur die Textdrucke erhalten sind, erneut verwandte. Dieser unerbittliche Duktus setzt sich die ganze Arie über fort – heftige Schläge der Bratschen und Bässe und unaufhörliche Reibungen der Violinen lassen die Singstimme kaum zu Atem kommen. Es ist dabei weniger die in zahllosen Werken des Barock beschriebene schmeichelnde Verlockung der Sünde, sondern der übermächtige Sog des bösen Tuns, dem der Komponist seine Hörer hier begegnen lässt und gegen den es alle erdenklichen Kräfte zu mobilisieren gilt. Für Luther und Bach war der Teufel keine blosse Metapher, sondern als unabschüttelbarer Lebensbegleiter ein höchst realer Widersacher. Die Arie Nr. 3 spricht dies unumwunden aus: «Wer Sünde tut», der geht nicht allein fehl, sondern «der ist vom Teufel», von dessen Gift man nur zu leicht erfasst werden kann. Passend dazu ist das Thema dieser zweiten Arie von einem chromatisch absteigenden Gang geprägt, der das Versinken in Sünde und Schuld nachzeichnet, wobei der wirbelnde Gestus zugleich an einen Totentanz erinnert. Zugunsten eines geschärften Klangbildes treten die Bratschen und Violinen dabei zu jeweils einer Stimme zusammen. In einer aufgehellten Version tritt dieses Thema in der Triosonate C-Dur BWV 1037 nochmals in Erscheinung, die lange Bach zugeschrieben wurde, durch Alfred Dürr jedoch als Meisterwerk von dessen Schüler Johann Gottlieb Goldberg identifiziert wurde. Zwischen beide Arien ist ein sprachgewandt vertontes Rezitativ eingeschaltet, das bildkräftig den «leeren» und trügerischen Charakter der Sünde beschreibt und gegen Ende das «scharfe Schwert» aus Lukas 2, 35 durch «Leib und Seele» fahren lässt.
Nicht mit Sicherheit lassen sich gegenwärtig der Entstehungszeitraum sowie die Stellung der Kantate im Kirchenjahr bestimmen. Die tiefe Lage der Singstimme verweist auf die hohe Chortonstimmung der Weimarer Schlosskirche. Auch die altertümliche Instrumentierung sowie die Überlieferung der Kantate in einer Abschrift der Weimarer Organisten Johann Gottfried Walther und Johann Tobias Krebs deuten auf Bachs dortige Dienstzeit. Während der Librettist Georg Christian Lehms seine Dichtung als «Andacht auf den Sonntag Oculi» bezeichnete, hat Alfred Dürr mit werkchronologischen Argumenten eine Zweckbestimmung zum 7. Sonntag nach Trinitatis ins Spiel gebracht. Möglicherweise war die Kantate von Bach auch als Komposition «in ogni tempo», also ohne Festlegung im Kirchenjahr, intendiert. Textdrucke von Kantaten, die sich an den Wortlaut unseres Stückes anlehnen, haben sich für 1739 und 1748 aus der sächsischen Kleinstadt Leisnig erhalten. Sollte es sich dabei um Wiederaufführungen von BWV 54 gehandelt haben, so waren sie nun dem 1. bzw. 20. Sonntag nach Trinitatis zugeordnet. Zu ergänzen wäre, dass sich einer Beobachtung Michael Mauls zufolge für den Beginn des ersten Satzes mit seiner spektakulären Dissonanz eine verblüffende Parallele in Telemanns Opernarie «Harte Fesseln, strenge Ketten» von 1711 findet.
In unserer Einspielung beschliesst ein neukomponierter Choralsatz zu einer Liedstrophe von Martin Jan (1620–1682) die Kantate. Dem für die Überlieferung barocker Aufführungsmaterialien typischen Prinzip einer abgewandelten Aneignung folgend, hat damit ein kundiger Kantor aus St. Gallen die verehrte Vorlage ein Stück weit fortgeschrieben…
In der Werkeinführung erhalten Sie in Begleitung von Pfarrer Karl Graf sowie von Dirigent Rudolf Lutz wertvolle, vertiefende Einblicke in die Komposition. In den Reflexionen betrachten Persönlichkeiten aus verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen die barocken Kantaten und ihre Texte aus heutiger und persönlicher Sicht. Hören, sehen und lesen Sie vorliegend zu BWV 54 die Meinung aus Sicht von Thomas Sprecher.
Die Werkeinführung sowie das Konzert und die Reflexion durfte die J. S. Bach-Stiftung in der evang. Kirche in Trogen am 14.03.2008 zur Aufführung bringen.
Wir wünschen Ihnen viel Hör-, Seh- und Lesegenuss.
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