Michael Francis im Interview
« Es gibt Zeiten, in denen ich das körperliche Vergnügen, Klang zu produzieren, vermisse. »
Michael Francis ist der neue Chefdirigent der Deutschen Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz zu Beginn dessen Jubiläumssaison 2019/2020. Der gebürtige Engländer ist in vierter Spielzeit Music Director des Florida Orchestra und verantwortet seit Sommer 2015 als musikalischer und künstlerischer Leiter das Mainly Mozart Festival in San Diego. Engagements führten ihn in Europa zu Orchestern wie dem Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin, dem MDR Sinfonieorchester, der Dresdner Philharmonie, dem Orchestre Philharmonique de Radio France, zum Sinfonieorchester des Mariinsky-Theaters, zum Trondheim Symphony, zum Helsinki Philharmonic Orchestra und zum Orquesta y Coro de RTVE Madrid. Auch das London Symphony Orchestra leitete er mehrfach. Hier, damals noch Kontrabassist des Orchesters, stellte er zuerst sein Talent für das Dirigieren unter Beweis. Gefördert hat ihn neben Valery Gergiev auch Sir Colin Davis. In Asien dirigierte er das NHK Symphony Orchestra, sowie das Japan-, Seoul- und Hong Kong Philharmonic. In Nordamerika wusste er u. a. am Pult des New York Philharmonic, des Cleveland Orchestra sowie der Sinfonieorchester in Pittsburgh, Houston, Atlanta, Cincinnati, Montreal und Toronto zu überzeugen. Nun hat er bei der Staatsphilharmonie einen Fünfjahresvertrag unterschrieben.
Classicpoint.net: Sie sind neu Chefdirigent der Deutschen Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz, welche dieses Jahr ihr 100-jähriges Jubiläum feiert. Wie ist Ihr Eindruck vom Orchester?
Das Orchester ist wunderbar. Sie haben eine ideale Balance, einerseits extrem talentiert zu sein und andererseits den Wunsch, ihr Potenzial zu maximieren. Mit dieser Kombination sind alle Dinge möglich. Es hilft auch, dass sie so wunderbare Menschen sind und versuchen, eine positive, freundliche Umgebung für die Arbeit zu schaffen. Ich habe das Glück, mit Intendant Beat Fehlmann einen inspirierenden Partner zu haben, der zusammen mit seinen exzellenten Mitarbeitern hervorragende Ergebnisse erzielt.
Sie haben sich im Jubiläumsjahr zum Ziel gesetzt, vielfältige Zugänge zur klassischen Musik sowie eine breite kulturelle Teilhabe zu ermöglichen. Was ist konkret geplant?
Michael Francis: Wir haben gerade eine spannende Zusammenarbeit mit dem Ensemble Re:Soulution, einer Mannheimer Modern Dance Gruppe, abgeschlossen, die ihren einzigartigen Stil in Strawinskys Pulcinella einbrachte. Dies wurde vom Publikum begeistert aufgenommen und mit Vareses Ameriques und Saties Parade gepaart: ein sehr anregender Abend! Außerdem stellen wir in Ludwigshafen ein neues Konzertformat vor, das wir „Keynote-Konzerte“ nennen. Im ersten Konzertteil diskutieren wir ein Meisterwerk mit Live-Orchesterbeispielen, gefolgt von einer kompletten Aufführung im zweiten Teil. Ziel ist es, ein tieferes Zuhören und Verständnis beim Publikum zu fördern und einen Anreiz für neues Publikums zu schaffen.
Was sind Ihre persönlichen Ziele bei der Arbeit mit diesem Orchester?
Michael Francis: Ich sehe meine Aufgabe darin, exzellente Bedingungen zu schaffen, durch die unsere Musiker stets ihre beste Leistung erbringen können und damit unsere breite und reiche Gemeinschaft in Rheinland-Pfalz die Absichten jedes Komponisten auf höchstem Niveau erleben kann. Ich möchte unser Potenzial maximieren und unsere Gemeinschaft inspirieren.
Was sind Ihre Prinzipien bei der Arbeit mit einem Orchester?
Michael Francis: Das Genießen unserer wunderbaren Jobs! Das Streben nach künstlerischer Exzellenz in allem, was wir tun. Ein Umfeld mutiger Kreativität und die kollektive Verantwortung jedes einzelnen Musikers zu fördern. Die Stärkung der Führung innerhalb des Orchesters, da nur so das höchste Niveau erreicht und aufrechterhalten werden kann. Mich stets zu vergewissern, dass ich meine Arbeit hervorragend mache, damit die Musiker ihre Arbeit hervorragend machen können.
Was sind Ihrer Meinung nach die wichtigsten Eigenschaften, welche erfolgreiche Dirigenten besitzen sollten?
Schließlich produzieren die Musiker die Musik. Respekt für die Absichten des Komponisten. Künstlerische Vision gepaart mit einer Offenheit für das, was jeder Musiker mitbringt. Technische Kompetenz, damit die Musiker selbstbewusst spielen können. Kommunikation, um die Wahrheiten aus der Musik herauszulesen, mit dem Ziel, dass jedes Konzert dem Zuhörer hilft, sein eigenes Leben und das Leben anderer um ihn herum besser zu verstehen. Ein bedingungsloser Einsatz dafür, tiefer in unsere wunderbare Kunstform einzutauchen und sie einem möglichst breiten Publikum zugänglich zu machen.
Gibt es auch Momente, in denen Sie lieber ein Instrument im Orchester spielen würden, als vorne am Pult zu stehen?
Es gibt Zeiten, in denen ich das körperliche Vergnügen, Klang zu produzieren, vermisse. Ich habe Kontrabass gespielt und dieses Instrument hat eine unglaubliche Körperlichkeit – besonders in den Mahler- oder Beethoven-Sinfonien, in Strauss-Ton-Gedichten und natürlich am Ende von Strawinskys Le sacre du printemps!
Sie haben ursprünglich Kontrabass studiert, spielen Sie dieses Instrument noch?
Ich kann es immer noch spielen, aber es tut mir jetzt nur noch weh! Die Hornhaut an den Fingern ist verschwunden und es würde ein paar Monate dauern, bis ich wieder einen anständigen Standard erreicht hätte. Im Moment spiele ich mein Instrument nur für allein, aber hoffentlich eines Tages wieder für alle…
Als Dirigent sind Sie ja sehr exponiert. Können Sie uns eine Anekdote von einem besonders peinlichen und einem besonders gelungenen Moment erzählen?
Live-Musik sorgt für immer wieder überraschende Momente. Vor Kurzem, als ich Vareses Ameriques in Mannheim dirigierte, schnippte ich irgendwie meinen Taktstock und blätterte dadurch die Hälfte der Seiten meiner Partitur auf einmal um. Dies führte dazu, dass ich extrem schnell zur richtigen Stelle zurückblättern musste, während ich ruhig und konzentriert blieb. Es war das erste Mal, dass ich dieses selten gespielte Meisterwerk dirigierte, so dass ein Dirigieren aus der Erinnerung keine Option war. Den Musikern rutschte das Herz in die Hose und hinterher fragten sie mich, was ich getan hätte, wenn ich während solch einer komplexen Musik nicht sofort die richtige Stelle in der Partitur wiedergefunden hätte. Ich antwortete „Lächeln und Dirigieren in Einem!" Alle erfolgreichen Momente dieser Art beinhalten, dass man schnell eine Situation beheben muss, in der uns die Fehler eines anderen in die Luft gejagt hätten – natürlich bin ich etwas zu diskret, um diese zu erwähnen... ;-))
Ihr Wohnsitz ist mit Ihrer Frau und Kind in Florida. Wie oft sind Sie überhaupt zuhause?
Ich war gerade drei Monate weg und habe in Nordamerika und Europa dirigiert. Es war eine besonders lange Zeit, aus dem Koffer zu leben, aber zum Glück ist meine Tochter jung genug, dass wir noch zusammen reisen können. In der Hauptsaison zwischen September und Juli bin ich jedoch etwa die Hälfte der Zeit zu Hause.
Sie haben eine Vorliebe für die Komponisten Ihres Heimatlandes. Welche und warum mögen Sie diese besonders?
Das Vereinigte Königreich ist bekannt für seine Literatur und Poesie, und vielleicht wurde seine Musik dadurch übersehen. Ich genieße es, die Musik britischer Komponisten in andere Länder zu bringen, nur aus einem einzigen Grund: Es ist wunderbare Musik und sie verdient es, gehört zu werden! Bisher scheinen es Orchester und Publikum zu genießen, neue Meisterwerke von Vaughan Williams, Britten, Walton, Panufnik und Elgar kennenzulernen.
Interview von Florian Schär | Classicpoint.net | 1.11.2019
Fotograf: © Felix Broede