Matthias Kirschnereit im Interview
« Die Welt wäre besser, wenn mehr Schubert gespielt würde. »
Erst mit 14 Jahren begann er sein erstes ordentliches Klavierstudium an der Detmolder Musikhochschule. Ein Alter, in dem andere Talente schon ihre ersten Klavierwettbewerbe hinter sich haben. »Ich bin auf den allerletzten Zug für eine Pianistenkarriere aufgesprungen.« Denn Matthias Kirschnereit hatte zuvor fünf Jahre lang in Namibia gelebt – wo an eine ordentliche Klavierausbildung nicht zu denken war. Trotz des Ruhmes, den Matthias Kirschnereit längst auch international auf seinen umfangreichen Tourneen genießt, sind ihm jegliche Star-Allüren fremd. Er gibt jährlich etwa 50-60 Konzerte, dazu ist er seit 1997 Professor an der Hochschule für Musik und Theater Rostock.
Classicpoint.net: Sie haben erst mit 14 Jahren ein ordentliches Klavierstudium begonnen. Vorher haben Sie 5 Jahre lang in Namibia gelebt. Können Sie uns von Ihrer Zeit in Namibia erzählen?
Als ich 9 Jahre alt war, wanderte unsere Familie nach Namibia aus, mein Vater war Pastor und schließlich Landesprobst in der Deutschen Gemeinde Windhoek. Für mich war es eine überaus spannende Reise, mit dem Linienschiff von Triest nach Walvis Bay, inklusive Äquatortaufe! Zunächst war ich ob der Kargheit der Wüste Namibias enttäuscht, wuchs ich doch im Wald am Großen Plöner See in Schleswig-Holstein auf. Aber im Laufe der Jahre verliebte ich mich in diese zeitlose, unendliche Weite des Landes und die wilde Natur.
Ich ging wie meine älteren Geschwister auf die Deutsche Höhere Privatschule in Windhoek, empfand damals das Tragen der Schultracht wie auch die Kontrolle der Länge des Haarschnittes (!!!) als extrem lästig ?!
Auf dem Klavier passierte nicht viel: Man wartete beim neugegründeten Konservatorium für Musik auf einen Wunderpianisten aus Europa. Ich meine, es war Josef Bulva. Dieser erschien und erschien nicht, ein Warten auf Godot. Schließlich nahm ich meinen Klavierunterricht nach dreijähriger Unterbrechung bei einem wunderbaren Lehrer am Konservatorium auf: Ernst van Biljon, der später Immobilien verkaufen sollte... Ich übte wenig, war aber bald einer der besten meines Jahrgangs und durfte bei Schülerkonzerten mitwirken. Das Ganze machte mir Spaß, und irgendwie keimte die Idee, Pianist zu werden. In der namibianischen Abgeschiedenheit war ich jedoch unendlich naiv, es existiert ein für meine damalige Einstellung prägender Satz: „Ich möchte ein großer Konzertpianist werden und übe täglich 20 Minuten!“ Das ist rückblickend schon ziemlich haarsträubend!
Mit den Jahren und dem allmählichen Einsetzen der Pubertät erlebte ich die unfassbar ungerechten politischen Umstände der Apartheidspolitik immer bewusster. Ich hatte zwei Freunde, wir nannten uns damals „Namibia Trio“, wir verfolgten den Plan, eine Rockband nach dem Vorbild Deep Purples zu gründen, versuchten, die Welt „zu retten“.
Irgendwann merkte ich, dass ich meinen Traum, Pianist zu werden, nur zurück in Deutschland würde verfolgen können. Ich verließ im Alter von 14 Jahren Windhoek alleine, ohne meine Eltern...
Wie ist Ihr heutiger Bezug zu Namibia?
Namibia ist ein Teil von mir, eine wichtige und prägende Zeit meines Lebens habe ich dort verbracht. Bei zahlreichen Besuchen in den Folgejahren spielte ich etliche Konzerte in Windhoek und Swakopmund, gerne möchte ich dem Land, den wunderbaren Menschen, etwas „zurückgeben“. Immer noch grüble ich darüber, wie z.B. ein Workshop „Mozart goes Desert“ oder so ähnlich aussehen könnte.
Ohne allzuviel vom aktuellen politisch-gesellschaftlichen Zustand des Landes zu wissen, scheint mir Namibia ein stolzes, herzliches und ausgesprochen würdevolles afrikanisches Land zu sein.
Zuletzt war ich vor zwei Jahren dort, es ist eine Freude, dieses begeisterte „Welcome to Namibia“ direkt am Flughafen zu vernehmen und die wunderschöne Vielfalt der Menschen auf der Independence Avenue in Windhoek zu bestaunen. Ich möchte mit meiner Familie baldmöglichst dieses traumhafte Land wieder besuchen. Den Menschen, dem Land wünsche ich von Herzen alles Gute – und stets guten Regen!
Nachdem Sie mit 9 Jahren mit Ihren Eltern nach Afrika gezogen sind, haben Sie sich dann mit 14 Jahren entschieden, alleine nach Deutschland zurückzukommen. Wie war diese Umstellung für Sie?
Rückblickend muss ich eindeutig sagen, dass man mit 14 Jahren noch WIRKLICH jung ist, und dass es gewiss ein Risiko bedeutet, die Eltern 11.000 km entfernt zurück zu lassen und fortan eine Wohngemeinschaft mit dem älteren Bruder zu gründen. Aber damals fühlte ich mich „reif“ und bereit genug, mein Leben alleine zu meistern – mit Sicherheit war ich dabei auch recht naiv, altklug, und wohl auch ziemlich brav, was rückblickend einen gewissen Selbstschutz dargestellt hat. Insgesamt war ich überaus glücklich, in meiner Lehrerin Prof. Renate Kretschmar Fischer an der Musikhochschule Detmold einen wunderbaren Menschen gefunden zu haben, die mich sehr fürsorglich förderte.
Mit 16 Jahren haben Sie sogar die Schule verlassen, um das Versäumte nach zu holen. Wie waren da die Reaktionen aus Ihrem Umfeld?
Ja, das vorzeitige Verlassen des Christian Dietrich Grabbe Gymnasiums in Detmold löste an meiner Schule einen Skandal aus. Alle, die Lehrer, die Mitschüler, der Direktor, zeigten überhaupt kein Verständnis und fanden mich wohl komplett übergeschnappt und äußerst unvernünftig. „Was ist, wenn Du mit 30 Jahren eine Sehnenscheidenentzündung bekommst? Was ist, wenn Du mit 30 Jahren keine Lust mehr auf das Klavier hast? Was wird mit Deiner Altersvorsorge?“ An solche Fragen meiner Mitschüler kann ich mich gut erinnern. Eines Tages wurde ich aus dem Unterricht direkt zum Direktor ins Büro zitiert. Audienz! Er gab mir zu verstehen: „Solche Leute wie Sie kennen wir, Sie werden später Klavierlehrer in Barntrup!“ Das saß! Auch wenn er, wie er mir gegenüber nach Jahren bekundete, mich nur vorsorglich warnen wollte vor meinen eigenen Flausen im Kopf und er mir eine literarisch-humanistische Schulbildung angedeihen lassen wollte, habe ich diese Worte doch nie ganz vergessen. Natürlich ist es rückblickend eine lustige Anekdote. Aber bitteschön: Barntrup ist ein wunderschönes Dorf in Ostwestfalen, wäre es denn ein solcher Niedergang, dort zu unterrichten? Nein, Unterrichten ist überall wichtig und sinnvoll!
Also: Unterstützung für meine Entscheidung, die Schule vor dem Abitur zu verlassen, bekam ich ausschließlich von meiner Familie und meiner Lehrerin.
Was wäre aus Ihnen geworden, wenn Sie in Namibia geblieben wären?
Das ist schwer zu sagen. Mein damaliger Freund des Namibia Trios engagierte sich später stark für die Befreiung und Unabhängigkeit des Landes und landete zeitweise im Gefängnis. Sicher wäre ich nie Farmer geworden, und auch das Führen eines Restaurants mit Krokodilspezialitäten ist eher unwahrscheinlich. Musik ist meine größte Leidenschaft – vielleicht wäre ich sonst zum Vertiefen der Studien nach Kapstadt gegangen. Aber das sind alles müßige Überlegungen…
In Ihrem Portrait Vita schreiben Sie, dass Sie «dem Empfindungsreichtum, dem Atem und den menschlichen Zügen der Musik auf der Spur sind». Können Sie uns das etwas detaillierter erklären?
Die Portrait Vita stammt von einem Journalisten, er hatte diese Sätze formuliert. Aber ich habe sie nicht widerrufen, mir ist es tatsächlich sehr wichtig, mit der Musik den Komponisten und deren Gedanken und Visionen nachzulauschen und mit deren Sprache Geschichten zu erzählen. Geschichten, die zuweilen aus dem Leben inspiriert sind, Geschichten, die auch Dinge erklingen lassen, die mit Worten nicht zu benennen sind. Nehmen wir z.B. Mozart: Ein Opernkomponist durch und durch, aber auch in einer Instrumentalsonate geht es mal heiter, mal dramatisch, mal verführerisch, mal zweifelnd, mal todessehnsüchtig, mal trivial zu. Dieses zu erfühlen, zu erleben, mit dem Komponisten zu leiden und das innerlich Gehörte in Tönen ausdrücken, ist eine höchst zeitlose, lustvolle und vitale Sache.
Sie sind künstlerischer Leiter der «Gezeitenkonzerte Ostfriesland». Was zeichnet dieses Festival aus?
Zunächst einmal: Ganz wunderbare Künstler in einzigartiger, magischer Umgebung, zumeist in den malerischen kleinen Kirchen Ostfrieslands. Wo sonst erleben Sie Künstler wie Maria João Pires, Christian Tetzlaff, Grigory Sokolov, Sabine Meyer, Angelika Kirchschlager, Daniel Hope oder Elisabeth Leonskaja in quasi intimer Umgebung? Ostfriesland ist keine Durchgangsstation. Künstler wie auch das Publikum „entschleunigen“, es entstehen in faszinierender Umgebung unvergessliche Kunsterlebnisse.
Unser Programmspektrum ist breit aufgestellt, von den Komponistenporträts, bei denen bislang u.a. Jörg Widmann, Wolfgang Rihm, Helmut Lachenmann, Peter Ruzicka in der Emder Kunsthalle persönlich vor Ort waren, über unser „Herz“, die klassische Kammermusik, bis hin zu populären Orchesterkonzerten à la Proms und Jazz- und Weltmusikabenden ist vieles dabei.
Ein sehr wichtiges Anliegen ist mir die Förderung des musikalischen Nachwuchses, unsere „Gipfelstürmer“. Intensive Kooperationen mit TONALi Hamburg und Rhapsody in School unterstreichen unsere Aktivitäten, junges Publikum für klassische Musik zu entflammen.
Sie sind auch Professor an der Hochschule in Rostock. Würden Sie heute einen Studenten aufnehmen, der erst mit 16 Jahren richtig angefangen hat zu üben?
Naja, mit 16 Jahren zu beginnen ist wirklich spät. Dass jemand erst dann ernsthaft mit dem Unterricht beginnt, um dann ein Studium aufzunehmen, ist eher unwahrscheinlich. Aber es gibt hin und wieder auch Studenten, die erst so richtig mit 11 oder 12 Jahren intensiver loslegen, und wenn sie talentiert sind, sehr fleißig arbeiten und vor allem für Musik „brennen“, dann kann das ein sehr interessanter Weg sein. Sicherlich nicht, wenn der Gewinn des Warschauer Chopin Wettbewerbs das oberste Ziel ist, aber das Musikleben ist doch ausgesprochen vielfältig. Und für die Guten, Engagierten, Kreativen sollte sich meines Erachtens auch ein Platz finden lassen. Ich bin immer traurig, wenn ich spüre, dass alles andere außer der großen Solokarriere, auch hochkarätige Kammermusik oder Liedgestaltung, etwas Minderwertiges seien. Geschweige denn das Unterrichten. Gerade für Pianisten wird sich das Berufsbild immer aus einzelnen Tätigkeitsfeldern patchworkartig zusammen setzen. Das kann sehr spannend und beglückend sein.
Wie beurteilen Sie die aktuelle Ausbildungssituation an den deutschen Musikhochschulen: wenig Musikerstellen, Studium meist auf Solisten ausgerichtet – die meisten Studenten werden Musikschullehrer?
Wie ich schon sagte: Man muss gut sein, kreativ und auch flexibel. Tragischerweise wird der Beruf des/der MusiklehrerIn in Deutschland nicht annähernd so respektvoll erachtet und vergütet, wie es für diese derart wichtige und verantwortungsvolle Aufgabe angemessen wäre. Dass musikalische Bildung in verschiedenster Hinsicht junge Menschen positiv beeinflusst, begeistert, herausfordert, Gemeinschaft stiftet uvm., ist allseits bekannt. Doch leider wird an allgemein bildenden Schulen der Unterricht oftmals ausgesprochen stiefmütterlich behandelt, und wer z.B. in Hamburg einen Platz in der Jugendmusikschule ergattern möchte, kann sich schon mal auf eine Wartezeit von etwa 5 Jahren einstellen.
Hier ist wirklich auch die Politik gefordert. Ich sage immer, dass die Welt besser wäre, wenn mehr Schubert gespielt würde. Klar, das ist naiv, Schubert spricht bekanntlich nur den allerkleinsten Teil unserer Gesellschaft an, das weiß ich wohl. Doch bin ich felsenfest davon überzeugt, dass man nicht Schubert hören und lieben kann, und gleichzeitig extremem rechten Gedankengut huldigen kann – weil Schubert nicht zuletzt Empathie voraussetzt.
Wo sehen Sie die Potenziale im aktuellen Klassikbetrieb?
Ich sehe viele positive Entwicklungen, die bestrebt sind, „der Zukunft Gehör zu verschaffen“ – um den Leitspruch TONALis zu zitieren. TONALi, wie auch die von Lars Vogt ins Leben gerufene „Rhapsody in School“ sind zwei Initiativen, die ich immer gerne aktiv unterstützte. Auch die vielen Begabtenförderprogramme, die an den Hochschulen aufgelegt werden, um den musikalischen Nachwuchs zu fördern, begrüße ich sehr.
Tatsächlich scheint das „Konzept“ in unseren Tagen immer wichtiger. Dass man ein Programm zusammenstellt, das nicht nur aus den jeweiligen Lieblingsstücken besteht sondern durchaus Verbindungen, Brücken baut. Auch die Musikvermittlung wird zweifellos immer wichtiger. Es gibt viele spannende Festivals, die sich neu etablieren, die klassische Kammermusikreihe scheint eher auf dem Rückzug begriffen. Doch bei alldem darf man NIE die eigentliche Aufgaben des Interpreten aus den Augen verlieren: „Belebe das Werk, ohne ihm Gewalt anzutun!“ Diesen Motto Edwin Fischers versuche ich, nach Kräften zu beherzigen! Es geht nichts über ein ergreifendes, bewegendes, schönes und auch erschütterndes Musikerlebnis.
Interview von Florian Schär | Classicpoint.net | 1.7.2019
© Bild: Neda Navaee