Mario Venzago im Interview
« Urtext zu dirigieren ist Unsinn. »
Mario Venzago ist Chefdirigent und künstlerischer Leiter des Berner Symphonieorchesters und Artist in Association bei der finnischen Tapiola Sinfonietta. Vor seiner dirigentischen Tätigkeit war Venzago Konzertpianist beim Rundfunk der Italienischen Schweiz und spielte als Solist und Begleiter in ganz Europa.
Classicpoint.net: Sie haben zuerst Klavier studiert und waren als Pianist aktiv. Wie oft spielen Sie heute noch Klavier?
Ich wollte immer dirigieren, war aber der Meinung, dass JEDER Dirigent mindestens EIN Instrument konzertreif spielen können muss, bevor er anderen Ideen und Direktiven übermitteln darf. Nach meinen Auftritten als Pianist an den Luzerner Festwochen (heute Lucerne Fesival) habe ich aufgehört, öffentlich zu spielen. Ich lerne meine Partituren am Klavier, kann immer noch fast alles "vom Blatt" spielen, werde das aber nie mehr öffentlich tun.
Viele Dirigenten möchten möglichst getreu den Urtext des Komponisten verwirklichen. Sie sind anderer Auffassung?
Es ist wichtig, den Urtext zu kennen, eben das, was der Komponist notiert hat. Um dann herauszufinden, was er GEMEINT hat. Das Aufschreiben von Musik ist eine ungeheure kulturelle Erfindung. Aufgeschriebenes wieder in lebendigen Klang und Sprache mit allen nicht notierbaren Freiheiten zurückzuverwandeln, ist aber eine genau so ungeheure Leistung des musikalischen Verstandes. Einen Urtext zu dirigieren ist Unsinn.
Sie haben einmal gesagt «Dirigieren ist ein furchtbarer Beruf». Können Sie uns das erläutern?
Die letzten zehn Jahre meines Dirigentenlebens gehören zu meinen glücklichsten. Es ist ein Beruf mit unbeschreiblichen Privilegien. Aber der Weg dahin ist dornenvoll und führt über unangehehme Stationen mit zu wenig Proben, mit Anecken und vielen aussermusikalischen Kämpfen. Man ist auch nie zu Hause, sondern stets unterwegs. Auch sind oft die eigenen Ansprüche ungut. Da bin ich milder geworden. Und glücklich.
Wie vermitteln Sie Tradition und Kultur bei einem Orchester?
Um Tradition zu vermitteln, muss man sie kennen. Das ist ja heute mit den ganzen Internetangeboten nicht so schwierig. Zu entscheiden, was Tradition ist und weitergehen soll, und was – wie Mahler sagte – nur Schlamperei, ist oft nicht leicht zu entscheiden. Und bitte: welche Tradition? Zwischen den beiden Weltkriegen wurde in Deutschland auf höchstem Niveau musiziert. Danach ist alles kaputt gegangen. Ich mag diese alte deutsche Tradition mit ihrem dunklem Klang und wenig Lärm. Vermitteln lässt sich das alles in den Proben.
Was ist Ihr persönliches Klangideal?
Ein durchsichtiger Klang mit hellen, vibratoarmem Streicherklang und dunklen Holzbläsern, beleuchtet mit leise akzentuierenden Belchbläsern, etwa so, wie es das Concertgebouwe in Amsterdam spielt oder das Berner Symphonieorchester.
Als Schweizer haben Sie einige der grossen Orchester dieses Landes als Chefdirigent geprägt. Zurzeit sind Sie in Bern als Chefdirigent. Wo sehen Sie die Hauptunterschiede der Orchester innerhalb der Schweiz?
Schwer zu sagen. Das hängt doch sehr von den jeweiligen Chefdirigenten ab. Interessant ist aber, dass nicht die höchst gerankten oder best bezahlten Ochester die besten sind. Das kleine Winterthurer Orchester hat z.B. Gewichtiges mitzureden. Schade, dass es keinen Wettbewerb zwischen den Orchestern gibt, so eine Art Olympiade...
Und wie unterscheiden sich deutsche Orchester? Ist jedes Orchester anders, oder gibt es doch länderspezifische Merkmale?
Klar, dass die Orchester in Deutschland extrem Unterschiedliches leisten. Dass die Berliner Philharmoniker in ihrem Repertoire unschlagbar sind, ist klar. Wenn man das mag, wie sie es spielen. Aber dennoch müssen alle deutschen und schweizerischen Orchester gut aufpassen, dass sie nicht von den englischen oder nordischen überrannt werden. Diese Orchester haben ein ungeheures Prima Vista, d.h. sie spielen praktisch auf Anhieb perfekt. Und die amerikanischen haben eine geradezu beängstigende Probendisziplin. Das führt zu grosser Effizienz und Wirtschaftlichkeit. Bei den kleineren deutschen Orchestern kann man vieles ausprobieren. Das kann zu grandiosen Neuleistungen führen. Also überall ist alles immer ein wenig anders. Deswegen lohnt es sich für einen Dirigenten, zu reisen...
Sie haben ein ganz spezielles Verhältnis zur Musik von Othmar Schoeck?
Er ist ein genialer Komponist. Vieles ist halt unfertig und bedarf akribischer Nachschöpfung. Manchmal erfreut einen das, manchmal ärgert es einen. Es ist eine mühsame grosse Liebe, die ich zu seinem Werk emfpinde.
Was sind Ihre Pläne für die Zukunft?
Die Gegenwart ist spannend genug.
Was sind Ihre Interessen neben der Musik?
Die gleichen wie bei allen Menschen: Sex and crime. Aber das wollen Sie doch gar nicht wissen!
Interview von Florian Schär | Classicpoint.net | 1.2.2018
© Foto: Alberto Venzago
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