Iván Fischer im Interview
«Wo das Sprechen aufhört, fängt die Musik an.»
Der Ungar Iván Fischer ist einer der weltweit visionärsten und erfolgreichsten Orchesterleiter. Mit zahlreichen renommierten Orchestern auf der ganzen Welt arbeitet er zusammen, war Operndirektor an der Opéra de Lyon und der Kent Opera in Großbritannien. 1983 gründete Iván Fischer in seiner Heimat das Budapest Festival Orchester, dem er bis heute als Musikdirektor vorsteht. Seit August 2012 ist er Chefdirigent des Konzerthausorchesters Berlin. In jüngster Zeit ist Iván Fischer auch als Komponist aktiv.
Classicpoint.ch: Sie kommen aus Ungarn und leben zur Hälfte dort und zur Hälfte in Berlin. Wie nehmen Sie die kulturellen Unterschiede wahr?
Es gibt zahlreiche: Grosses Land - kleines Land, Weltsprache - isolierte Sprache, Ost - West, Rationalität - Inspiration, usw. Aber es gibt auch Ähnlichkeiten. Beide Hauptstädte sind voll von Ausländern und voll von Kultur, vor allem Kunst taucht überall auf.
Sie haben mit Harnoncourt gearbeitet. Wo waren Sie sich mit ihm nicht einig?
Ich war mit ihm einig, dass Musik ein Mittel ist um zu kommunizieren. Ideen, Gedanken, Gefühle. Musik ist keine Droge, die nur schön klingt. Harnoncourt gebrauchte das Wort Klangrede. Ich würde gerne einen Schritt weiter gehen und sagen, dass wo das Sprechen aufhört, fängt die Musik an. Weil Musik auch etwas mitteilt, das wir mit Wörter nicht ausdrücken können.
Sie haben das Budapest Festival Orchestra 1983 gegründet und dieses zu einem Spitzenorchester geformt. Was unterscheidet dieses Orchester von den anderen Spitzenorchester?
Der auffallendste Unterschied ist das Innovative, weil das BFO sich intensiv damit beschäftigt, wie das Orchester der Zukunft aussehen wird. Das BFO hat die höchste Qualität, aber eine ständige Experimentierlust unterscheidet uns von den Spitzenorchestern, die vor allem Tradition bewahren.
Sie haben eine eigene Sitzordnung entwickelt. Können Sie uns die Vorteile erklären?
Das ist nur eine von vielen Reform-Massnahmen. Mit unterschiedlichen Höhen gleichen wir Volumen-Unterschiede aus, wie z.B. zwischen Holz- und Blechbläsern. Die Holzbläser klingen besser und sauberer, wenn sie den Bass und nicht das Blech in den Nacken bekommen. Die Kontrabässe spielen und klingen besser nebeneinander als in einem Haufen. Die zweite Violine ist auf meiner rechten Seite von Unterdrückung befreit.
In Ungarn haben Sie grosse Probleme mit den Minderheiten. Sie haben mit Ihrem Orchester Hilfsprojekte entwickelt. Zudem haben Sie Flüchtlingshilfe, Lastwagen, Unterkünfte, Nahrungsmittel, Decken, etc. organisiert. Wie ist die aktuelle Situation?
Jetzt gibt es dort kaum Flüchtlinge. Dafür gibt es fast eine Million Sinti und Roma, die meistens arm sind und wenig Chancen haben.
Sie treten mit Ihren Musikern an vergessenen, tabuisierten Orten auf. Können Sie uns davon ein bischen erzählen?
Die verlassenen Synangogen besuchen wir regelmässig. Die stehen meistens in "judenfreien" Dörfern und Städten. Wir spielen für die Bevölkerung, die sehr wenig über die Vergangenheit weiss. Ein Rabbiner erzählt von den einzigen jüdischen Nachbarn und über die Funktion der Synagoge. Manche sind von Spenden von emigrierten Juden oder von staatlicher Unterstützung schön wiederhergestellt, andere sind Ruinen, Lagerräume oder Sporthallen.
Wo liegt Ihre Hauptarbeit als Dirigent?
Musik ist mein Wundermittel. Mein Zweck ist das Dienen der Gesellschaft. Das Orchester ist meine Familie.
Seit 18 Jahren komponieren Sie auch selbst. Wie würden Sie Ihren Stil beschreiben?
Ich mische viele Stile, das Resultat ist etwas Eklektisches. Trotzdem sagen meine besten Freunde, dass meine Musik etwas Persönliches hat. Wenn ich das höre, freue ich mich, weil ich hoffe, dass das Persönliche nicht die Sprache, sondern der Inhalt ist.
Sie fühlen sich nicht verpflichtet, zeitgenössische Musik aufzuführen, haben Sie mal in einem Interview gesagt. Wie ist die Qualität zeitgenössischer Werke Ihrer Meinung nach?
Ja, ich finde "Verpflichtung" kontraproduktiv. Wenn es so weitergeht, kann eine Dreierbeziehung entstehen, in welcher der Komponist Langweiliges schreibt, das Publikum langweilt sich, und der Dirigent programmiert es wegen seiner Verpflichtung. Ich fühle lieber eine Verpflichtung gegenüber dem kulturellen Bedarf des Publikums.
Was die Qualität angeht, kann man nichts Allgemeines sagen. Es gibt Schönes und Hässliches. Die Tonalität gewinnt langsam gegen die Atonalität. Die Atonalität wird wahrscheinlich in die Geschichte eingehen, wie andere gescheiterte Versuche des zwanzigsten Jahrhunderts. Aber es gibt auch wunderbare atonale Werke.
Am Verbier Festival treten Sie mit einem Wagner-Abend auf. Was bedeutet Ihnen die Musik von Wagner allgemein?
Er war einer der grössten Genies der europäischen Kultur. Seine Kreativität und Originalität sind unglaublich. Er hat eine ganze Welt erschaffen.
Können Sie uns vielleicht zu den einzelnen Werken je kurz etwas persönliches sagen?
- Die Meistersinger von Nürnberg, Ouverture: Hier knallen zwei Welten aufeinander. Die Tradition und die romantische Melodie. Beide sind fantastisch schön.
- Parsifal, Karfreitagszauber: Reine Poesie. Wenn Wagner lyrisch ist, ist er sehr empfindlich.
- Tristan und Isolde, Prélude et Liebestod: Am besten soll man dazu Schopenhauer lesen.
- Götterdammerung: Sonnenaufgang, Siegfrieds Rheinfahrt, Siegfrieds Todesmarch et Starke Scheite, scène finale de Brünnhilde
Leider können wir nicht den ganzen Ring aufführen. Oder vielleicht sollen wir?
Interview von Florian Schär | Classicpoint.ch | 1.6.2016