Evgeny Kissin im Interview
« Das Leben bringt seine eigenen Überraschungen. »
Evgeny Kissin zählt zu den herausragenden Pianisten unserer Zeit. 1971 in Moskau geboren, begann er im Alter von zwei Jahren, nach dem Gehör auf dem Klavier zu spielen und zu improvisieren. Mit sechs Jahren wurde er an die Moskauer Gnessin-Musikschule aufgenommen. Hier wurde er Schüler von Anna Pavlovna Kantor, die seine einzige Lehrerin blieb. Sein Debüt als Solist mit Orchester gab er im Alter von zehn Jahren. Dies brachte ihm den Ruf eines Wunderkindes ein. Beim Neujahrskonzert der Berliner Philharmoniker 1988 spielte Kissin unter der Leitung von Herbert von Karajan das b-Moll-Konzert von Tschaikowski und erreichte damit seinen internationalen Durchbruch.
Sie haben sehr früh angefangen, Klavier zu spielen. An was können können Sie sich noch erinnern?
Bevor ich meinen ersten Klavierunterricht hatte, habe ich seit meiner Geburt ohne Pause Musik gehört. Verschiedenste Musikstile und Stücke kannte ich bereits sehr gut, als ich endlich die physische Grösse hatte, die Tastatur zu berühren. Ich begann, diese Melodien und Stücke aus dem Gehör nachzuspielen. Das erste Stück, das ich gesungen habe, war eine Bach-Fuge, da war ich 11 Monate alt. Meine ältere Schwester war am Üben des Préludes und der Fuge in A-Dur vom zweiten Band des Wohltemperierten Klaviers.
Sie haben Ihr Leben lang mit der gleichen Lehrerin, Anna Pavlovna Kantor, studiert. Können Sie uns etwas über Ihre Beziehung zu ihr und was Sie an ihr am meisten geschätzt haben, sagen?
Sie ist eine Person mit wahrer und erstaunlicher Integrität. Sie hat Ihr ganzes Leben für ihren Klavierunterricht geopfert. An einem Abend, als wir ihr Geburtstagsessen des 85. Geburtstages organisiert haben, hat ein Freund sie gefragt, ob sie sagen könne, wie sie mich in meiner Kindheit unterrichtet habe. Frau Kantor sagte, dass eigentlich meine eigene Persönlichkeit, meine Voraussetzungen, meine spezifischen Qualitäten die einzigen Aspekte waren, welche über die Zeit zeigten, wie es am besten war mich zu unterrichten.
Wie würden Sie Ihre persönliche Beziehung zum Instrument Klavier beschreiben?
Seit meiner frühesten Kindheit hatte ich einen natürlichen Drang, Klavier zu spielen. Ich liebte es, Klavier zu meinem eigenen Vergnügen zu spielen und nicht für den Unterricht zu üben.
Was interessiert Sie ausserhalb der Musik?
Poesie, Novellen lesen und Spiele.
Sie haben die jiddische Sprache gelernt. Am Verbier Festival 2002 haben Sie erstmals in der Öffentlichkeit in jiddischer Sprache rezitiert. Was bedeutet Ihnen diese Sprache und Ihre jüdischen Wurzeln?
Ich habe als Kind nicht Jiddisch gelernt, obwohl ich es ziemlich oft gehört habe. Wenn ich die Sommerzeiten bei meinen Eltern mütterlicherseits in ihrem Landhaus verbracht habe, haben Sie oft jiddisch gesprochen. Als ich älter geworden bin, wollte ich die Sprache richtig lernen.
Vor einigen Jahren hörte ich eine Aufnahme von Blochs Sonate, ein wunderbares Stück. Und vor drei Jahren habe ich in der Konzertreihe der Pro Musica Hebraica in Washington mitgespielt, organisiert von Charles Krauthammer und seiner Frau Robyn. Die Krauthammers haben angefangen, mir verschiedene Noten von jüdischer Musik zu senden. Ich habe dann die Stücke ausgewählt, die ich am geeignetsten fand. Jede Sprache ist ein Schatz. Jedes Erbe einer Nation ist ein Schatz. Jiddisch ist eine sehr reiche und ausdrucksvolle Sprache. Wunderbare Literatur wurde und wird immer noch darin geschrieben. Ich fühle, dass das etwas ist, das man am Leben erhalten sollte.
Sie werden auch dieses Jahr am Verbier Festival spielen. Auf dem Programm steht Beethoven und Rachmaninoff. Wie ist Ihre Beziehung zu diesen Komponisten?
Ich habe eine komplizierte Beziehung zur Musik von Beethoven, obwohl ich immer geglaubt habe, dass ich eine spezielle Affinität zu ihr habe. Aber in diesem Fall hat sich meine Liebe zu seiner Musik nie in eine adäquate Fähigkeit sie auszudrücken, transformiert. Rachmaninoff spiele ich immer als wäre es mein erstes Mal.
Wo sehen Sie die Herausforderungen in Ihrem Leben, was sind Ihre Zukunftspläne?
Ich sage ziemlich oft: Das Leben bringt seine eigenen Überraschungen. Zum Beispiel vor nur ein paar Jahren hätte ich nie geglaubt, dass ich Prosa in jiddischer Sprache schreiben werde und diese auch noch publiziert würde. Naja, und nun passiert genau das.
Interview von Florian Schär | Classicpoint.net | 1.6.2017
© Foto: Sheila Rock