Markus Ganz im Gespräch mit Yang Jing
Yang Jing im Interview
«Die Kunst besteht darin, die schwierigsten Dinge ganz einfach und leicht aussehen zu lassen»
Die chinesisch-schweizerische Komponistin und Pipa-Solistin Yang Jing besticht mit einem einzigartig vielseitigen Schaffen. Sie schreibt sowohl Musik für Orchester, Chor und Ensembles mit europäischen Instrumenten als auch solche für Formationen mit traditionellen chinesischen Instrumenten. Eine Besonderheit sind ihre vielseitigen Kompositionen für gemischt westlich und asiatisch instrumentierte Ensembles sowie Musik für Theater und Dokumentarfilme. Ihre Werke werden in Europa, China, Japan und in den USA aufgeführt.
Seit Yang Jing im Jahr 2003 ihren Lebensmittelpunkt in die Schweiz verlegt hat, befreit sie sich zunehmend von den Konventionen der traditionellen chinesischen Musik und verbindet ihre musikalischen Wurzeln mit neuen europäischen Einflüssen. Daraus sind auch aussergewöhnliche Kooperationen mit bekannten Musikern wie dem legendären amerikanischen Jazz-Schlagzeuger Max Roach und dem mit diversen Preisen ausgezeichneten Organisten Wolfgang Sieber entstanden. Yang Jing ist in renommierten Häusern wie der Carnegie Hall in New York, dem Barbican Centre in London, der Suntory Hall in Tokyo und dem Goldenen Saal in Wien aufgetreten.
Wie wurden Sie in China musikalisch ausgebildet und wie weit gehörte westliche, insbesondere klassische Musik dazu?
In meiner Kindheit hatte ich keine westliche Musikausbildung. Ab dem Alter von sechs Jahren lernte ich das Pipa-Spiel durch das Hören und Nachspielen von alten Meistern sowie dem Lesen traditioneller Noten. Im Alter von zwölf Jahren wurde ich an einer Kunstschule angenommen, um chinesische Opernmusik, die Fünf-Linien-Notation und grundlegende westliche klassische Musiktheorien zu lernen. Von 14 bis 18 Jahren arbeitete ich im traditionellen Operntheater von Xuchang, Henan. Dann, als nach der Kulturrevolution das chinesische Hochschulsystem wieder den Betrieb aufnahm, bestand ich die Prüfung am Shanghai Conservatory of Music, um Komposition und Solo-Pipa zu studieren. Klavierspielen und Gehörbildung in westlicher klassischer Musik gehörten zu den Pflichtfächern. Nach meinem Abschluss 1986 trat ich dem Chinese National Traditional Orchestra als Pipa-Solist bei und konnte viele Konzertreisen ins Ausland mitmachen.
Haben Sie sich dann auch ausserhalb Chinas weitergebildet?
Das Japan International Artists Exchange Program ermöglichte mir von 1996 bis 1998 unter anderem die Teilnahme an Kompositionskursen von Minoru Miki in Tokio. 1998 schied ich aus dem Orchester aus und wurde freischaffende Musikerin. Ich trat viele Jahre mit international tätigen Musikern weltweit auf und war als Dozentin für traditionelle chinesische Musik an westlichen Konservatorien tätig. Ab 2013 studierte ich dann wieder selbst: Jazzkomposition, Arrangement und Theorie sowie einen Vollzeit-Masterstudiengang in zeitgenössischer Musikkomposition und Theorie in Bern, Schweiz.
Bekannt wurden Sie als Virtuosin der Pipa, der gezupften Schalenhalslaute der klassischen chinesischen Musik. Wie stark hat diese Erfahrung ihre musikalische Karriere geprägt, Ihnen vielleicht auch Türen zur westlichen Musik geöffnet?
Man kann direkte Verbindungen von der sehr alten chinesischen Musik zur modernen westlichen Musik finden: etwa die Verwendung von Klangfarbenwechseln (ohne Melodie), die Verwendung von Formen und Strukturwechseln, Tempowechsel usw. als Teil der Musiksprache. Die Pipa hat zudem eine grosse Bandbreite an Spieltechniken, die reiche Klanglandschaften ermöglichen. Je mehr Solokonzerte ich gespielt habe, desto mehr schreibe ich für die Pipa und entdecke neue Möglichkeiten in der Spielweise. Die Erfahrung hilft mir auch, für Orchesterstücke und auch für andere Instrumente zu komponieren.
Wie prägt Ihre Erfahrung als Virtuosin ihre Kompositionen bis heute?
Die Live-Konzerte bringen für die Kompositionen sehr wichtige Erfahrungen. Diese stellen sicher, dass meine Musik das Publikum erreicht. Der «grausame» Punkt ist die Zeit. Denn die musikalische Zeit ist relativ wie auch der Raum: auf der Bühne anders als am Arbeitsplatz der Komponistin. Meine Erfahrungen haben mir aber geholfen, solche Zeit- und Klangraum-Unterschiede auszugleichen. Das hilft mir auch, die Mitspieler zu verstehen; schliesslich braucht es sie, damit aus Partituren Musik wird! Und ich bleibe auch bezüglich Termine «in time»: Ich habe meine Partituren stets zum vereinbarten Zeitpunkt abgeliefert und bis heute weltweit noch nie ein geplantes Konzert abgesagt, und das seit meinem 14. Lebensjahr!
Welche Klischees über die chinesische Musik stellen Sie im Westen immer wieder fest?
Hauptsächlich wird die chinesische Musik als eine einzelne Kategorie wahrgenommen und in eine einzige Zeitperiode gesteckt wird. Tatsächlich gibt es aber viele unterschiedlich Stile aus verschiedenen Zeiten. Selbst die Chinesen sind sich oft nicht im Klaren darüber, wie reichhaltig die chinesische Musik war und immer noch ist. Wer aber an die vielen unterschiedlichen Lebensumstände und chinesischen Sprachen denkt, wird kaum überrascht sein über die Bandbreite der Stile und Skalen. Es gibt viel zu entdecken.
Wo sehen sie die grundlegenden Unterschiede zwischen den musikalischen Traditionen des Westens und Ostasiens?
Der grundlegende Unterschied ist, dass westliche klassische Musik, sogar der Jazz, gut erforscht ist. Das ermöglicht es, diese Musik relativ leicht darzustellen und zu lehren. Deshalb hat die ganze Welt das Gefühl, dass in der Ausbildung die westliche Musiktheorie dominiere. Aber die Musik selbst ist nicht nur Theorie, nicht nur Partitur. Musik ist eine Art lebendiger Klang, sie ist Teil unserer Seele. Die ostasiatische Musik ist in der Theorie nicht gut erforscht. Aber das hat vielleicht damit zu tun, dass man sie nicht auf einen künstlichen Standard festlegen will. Die wichtigsten Beurteilungskriterien für die Kunst in der alten chinesischen Zeit sind zum Beispiel: «Um die Essenz zu erfassen, vergiss ihre Form».
Vor allem live wird deutlich, dass Sie keine musikalischen Scheuklappen kennen. In der Zürcher Konzertreihe «Tage für Musik zwischen den Welten» präsentieren Sie seit vielen Jahren Begegnungen mit Musikern aus sehr unterschiedlichen Genres – von Barock und Jazz bis zu elektronischer und Neuer Musik. Was treibt Sie dazu an?
Verschiedene Musikstile und verschiedene Musiker haben unterschiedliche Stärken. Der Prozess, sich in die Mentalität und Musiksprache anderer zu integrieren und andere mich und meine Partituren verstehen zu lassen, ist der beste Weg zu wachsen. Es bereichert nicht zuletzt die eigenen Fähigkeiten! Das Ergebnis ist nicht nur, einen jungen Geist zu bewahren, sondern es hilft einem auch, sich zu öffnen und kreativ zu sein bis ins hohe Alter. Neue Musik entsteht aus neuen Entdeckungen, neuen Verbindungen in Mikro- und Makroformen.
Wie Sie diese verschiedenen Stile verbinden, wirkt das vor allem live nie angestrengt, sondern erfrischend leicht und organisch. Fällt Ihnen das wirklich so leicht oder steckt viel Arbeit dahinter?
Kunst ist mehr als Technik. Es ist harte Arbeit, bis man die Spieltechniken wirklich beherrscht. Die Kunst besteht darin, die schwierigsten Dinge ganz einfach und leicht aussehen zu lassen. Wenn ich all das Leid und die Schwierigkeiten der Entstehung spüren lassen würde, wäre das keine Kunst mehr. Das wäre nur noch eine Provokation oder ein Schrecken. Es gilt, die technisch schwierigen Stücke mit grosser Freude und leichter Hand zu spielen. Dafür haben wir das Recht, Eintrittskarten zu verkaufen:-)
Wieso interpretieren Sie gerne auch mehrere hundert Jahre alte europäische Stücke – von Claudio Monteverdi bis zu Mozart?
Ich finde, dass gute Musik zeitlos ist.
Denken Sie, dass Sie als gebürtige Chinesin andere Aspekte etwa einer Komposition von Monteverdi zeigen können?
Ja! Denn die kulturelle Distanz und das breitere Spektrum des Verständnisses erlauben es mir, sie mit neuen Augen und Ohren zu studieren. Nicht zuletzt auch,um Routine vermeiden zu können.
Sie leben seit 2003 in der Schweiz. Wie hat dies ihre Karriere und ihre Musik beeinflusst?
Die unabhängige Schweizer Mentalität im Allgemeinen hat mir geholfen, mich selbst zu finden, mir selbst treu zu sein und keine Angst vor Kritik zu haben. Die innere Freiheit und Stärke sind die grundlegenden Eigenschaften eines guten Musikers. Die gerechte Gesetzgebung und die direktdemokratische Gesellschaft ermöglichen es mir, unabhängig zu sein und mit persönlicher Würde zu leben. Die Schweiz ermöglicht es mir, zu lernen, mich von Kritikern reflektieren zu lassen und an manchmal schwierigen Situationen zu wachsen.
Wieso interpretieren Sie neben chinesischen auch schweizerische Volkslieder – oder kombinieren sie sogar zum autobiografisch wirkenden Stück «A Shanxiner in Muotathal»?
Ich habe die Schweizer Mentalität durch die volkstümliche Musik kennengelernt, besonders durch ihre Texte. Auch wenn sich alle Schweizerinnen und Schweizer in den verschiedenen Sprachregionen als Individuen betrachten, so haben sie doch etwas gemeinsam: Sie respektieren den «Weg der Natur», den «Weg», der über die menschlichen Fähigkeiten hinausgeht. Im Stück «A Shanxiner in Muotathal» baue ich einen Improvisationspunkt in die geschriebene Partitur ein. Die Musik soll 'lebendig' klingen, die Musiker sollen sich am Ort des Live-Konzerts individuell, aber mit grosser Freude ausdrücken können, wobei sie sich gegenseitig respektvoll und verantwortungsbewusst unterstützen.
Was die Technik betrifft, so verschmelze ich die klar definierten Mikrotöne der westlichen klassischen Musik mit den undefinierten Mikrotönen der chinesischen Folklore in einer Sprache. Ich fordere die Musiker auf, ihr Instrument zu spielen, als wären sie ein Kind, um die Klänge mit Freude zu entdecken. So wie ich mich selbst als Kind fühle. Ich schätze mein Leben zutiefst, einschliesslich dessen, woher es kommt und wo es lebt.
Sie interpretieren solche Stücke äusserst beschwingt und offensichtlich gerne. Was reizt Sie daran, wo gibt es Gemeinsamkeiten?
Ich identifiziere mich mit dieser Art zu leben. Es gibt etwas vor uns. Es hat keinen Namen, keine Grenzen und liegt jenseits der menschlichen Fähigkeiten. Laozi nennt es Dao. Es erlaubt uns, die Lebens- und Arbeitskraft immer wieder neu zu starten, wenn wir uns darauf einlassen. Die Chancen warten an irgendeinem Ort darauf, von uns entdeckt zu werden.
Sie sind eine begeisterte und begeisternde Improvisatorin; waren Sie dies schon in China?
Ich habe sehr viel von Pierre Favre gelernt. Wir waren von 2000 bis 2007 immer wieder auf Konzerttournee, meist im Duo, aber manchmal auch im Jazz-Quintett. Er teilte seinen Blick auf die musikalische Landschaft mit mir, um mich auf eine demokratische Art und Weise mitspielen zu lassen, wie ich es zuvor in anderen Stilen nicht gekannt hatte.
Wie präzis definieren Sie in Ihren Partituren, wie eine Komposition zu spielen ist, legen Sie auch Freiräume etwa für Jazzmusiker fest?
Für Jazz-Musiker muss man Partituren im Jazz-Stil schreiben, sonst würde es Probleme geben. Aber es gibt auch einige Jazzmusiker, insbesondere Komponisten, die Partituren lesen können. Sie können mit einer Partitur "umgehen", indem sie sich bei der Interpretation einige Freiheiten nehmen. Es ist also sehr wichtig zu wissen, für wen man schreibt. Auch bei klassischen Orchestern sollte man darauf achten, welche Art von Partituren man schickt.
In Ihren Kompositionen der letzten Jahre sind die Ursprünge verschiedener Stilelemente immer weniger deutlich auszumachen, stattdessen zeigt sich immer mehr ein ureigener Ausdruck. Streben Sie diesen bewusst an oder ergibt er sich aus der ständigen Beschäftigung mit Musik und der wachsenden Erfahrung?
Musik existiert nicht auf der Oberfläche von Objekten, sie ist abstrakt. Ich bin auf dem Weg, die innere Essenz zu erforschen. Ich forme verschiedene Elemente wie Tonhöhen, Klänge und Arrangements nach bestimmten ästhetischen Vorlieben. Sie sind nicht die Kunst selbst, sie sind Träger für die mit ihr verbundenen Künste entsprechend ihrer zeitlichen und räumlichen Grenzen. Der Inhalt ist jenseits seiner Form und seines Stils.
Als ein Mensch, der ständig lernt und absorbiert, habe ich nicht nur eine Herkunft. Und die daraus gemachten Erfahrungen unterstützen mich in meiner kreativen Arbeit. Ich hinterfrage mich ständig, um das Wesentliche in dem zu finden, was ich sagen will. Und versuche, wichtige Gedanken und Recherchen in Form von Musik umzusetzen.
Was macht Ihrer Meinung nach Ihren persönlichen Kompositionsstil aus? Gibt es melodische oder harmonische Wendungen oder Methoden, die typisch für Ihren Ausdruck sind?
Da ich im traditionellen chinesischen Opernmusiktheater aufgewachsen bin, haben die musikalischen Artikulationen (Grammatik der Musik), die dramatischen Makrostrukturen und Mikrotonalitäten, die mündliche traditionelle Überlieferungen und die Art und Weise, wie die traditionelle Musik moduliert wird, einen starken Einfluss auf meine musikalischen Sprachen. Im Vergleich zu den meisten westlich ausgebildeten Komponisten basiert meine musikalische Sprache auf der östlichen Tradition und geht in Ausschnitten in westliche Musiklandschaften über.
Meine frühen musikalischen Erfahrungen wirken sich oft nicht vordergründig auf meine Werke aus, aber sie sind oft im Hintergrund vorhanden. Im Stück "Identität" zum Beispiel ist die ganze Struktur eine Geschichte: von der Angst, die eigene verlorene Identität in Frage zu stellen, und der Wut, keinen Platz in der eigenen lebendigen Gesellschaft zu finden, über innere Reflexion und den Blick auf die weitere Umgebung, bis zum Verständnis der menschlichen Schwäche und der Akzeptanz, dass die primäre Identität "Mensch" ist. Man könnte es in der Sonatenstruktur sehen. Es ist aber auch die traditionelle dramatische Erzählstruktur der Oper. Wenn man die Mikrotonalitäten überprüft, kann man verschiedene musikalische Artikulationen finden. Dennoch sind alle musikalischen Materialien in einer einheitlichen Sprache wie ein einziges Stück.
Verschiedene musikalische Sprachen haben grosse Unterschiede in Harmonien, Strukturen und Artikulationsmerkmalen. Die Unterschiede markieren sehr klare Trennungen. Neue Musik entsteht durch neue Entdeckungen: Sie schliesst unbekannte alte Traditionen ein, die bis zu dem Zeitpunkt unbekannt waren, an dem sie jemand aufgegriffen oder hervorgehoben hat, und entdeckt neue Wege in der instrumentalen Spielweise, usw.
Wir können solche musikalischen Entwicklungen deutlich aus der Perspektive der instrumentalen Entwicklungen sehen. Die Pipa zum Beispiel spiegelt die damit verbundenen menschlichen Traditionen und Emanzipationsspuren wider. Ihre Klänge, Spielweisen und ihr Repertoire haben sich seit Jahrtausenden ständig bereichert und weiterentwickelt, je nach Lebensumfeld der Musiker.
Ein Komponist zu sein, bedeutet für mich, die Fähigkeiten zu haben, dieses oder jenes Material zu benutzen, um das zu sagen, was ich zu sagen habe. Ausserdem muss ich in der Lage sein, verschiedene Kräfte und Energien zu bündeln (z.B. im Orchester oder in Auftrittsräumen), um es so genau wie möglich zu sagen.
Natürlich habe ich als freischaffender Musiker nicht oft die Möglichkeit, mir Orchester, Aufführungsorte usw. auszusuchen. Das, was ich habe, zu nutzen und innerhalb der Grenzen zu schaffen, bietet mir oft die Chance, meine Stimme in der Öffentlichkeit zu Gehör zu bringen. So kann ich meinen Beitrag zur Gesellschaft als Komponistin und als Bürgerin verwirklichen.
Unsere kommende Musikwoche in Zürich im Theater Stok, "TAGE FÜR MUSIK ZWISCHEN DEN WELTEN" zum Beispiel bietet seit vielen Jahren die Begegnung zwischen verschiedenen Sprachen, zwischen unserer persönlichen Musikwelt, zwischen Musikern und unseren Zuhörern. Die Begegnung ist nicht nur die Basis für einen emotionalen Austausch. Sie ist auch Inspiration und Ressource für neue Kreationen.
Interview von Markus Ganz
23 September 2021
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