Alexander Krichel im Interview
« Mein Motto: Kalter Kopf, kalte Finger, heißes Herz! »
Sechs Alben hat der 1989 in Hamburg geborene Pianist Alexander Krichel bereits veröffentlicht, fünf davon bei Sony Classical. Ausgebildet in Hannover bei Vladimir Krainev und in London am Royal College of Music bei Dmitri Alexeev, wurde er 2013 bereits mit seiner Debüt-CD zum „Nachwuchskünstler des Jahres“ beim ECHO Klassik gekürt.
Seither ist Alexander Krichel sowohl auf dem nationalen als auch internationalen Podium zu Hause: Er gab Konzerte in der Philharmonie und im Konzerthaus Berlin, in der Elbphilharmonie Hamburg und der Laeiszhalle, im Herkulessaal und Prinzregententheater in München, in der Kölner Philharmonie, in der Tonhalle Zürich, in St. Martin in the Fields London und der St. Petersburger Philharmonie sowie in vielen anderen Städten.
Classicpoint.net: Können Sie sich an Ihre erste bewusste Begegnung mit einem Klavier oder Klaviermusik erinnern?
Wir hatten immer ein Klavier zu Hause stehen, da meine Mutter bereits als Kind Klavier spielte. Ich selbst klimperte eigentlich immer nur ein wenig, bis ich aufgrund meiner übermäßigen Energie als sechsjähriges Kind das Klavier nun als Ventil hierfür entdecken sollte. Es fing alles damit an, dass ich bei einer Klavierlehrerin Unterricht nahm, die gerade aus Sankt Petersburg nach Hamburg gekommen war und kein Wort Deutsch sprach. Ich konnte aber auch kein Russisch. Somit hatte sie keine Wahl, als mir die Musik so beizubringen, wie eine Mutter ihrem Kind die Muttersprache beibringt: direkt, idiomatisch und ohne Umwege. Die Musik war von Anfang an für mich eine Sprache, mit der ich mich ausdrücken konnte!
Sie haben mit Auszeichnung die Aufnahmeprüfung in die Förderklasse einer Uni für hochbegabte Mathematiker in Hamburg geschafft und sich dann doch für das Musikstudium entschieden. Warum?
Als Kind hatte ich viele Interessen. Wie Sie sagen, habe ich neben der Schule bereits Mathematik und Physik studiert und an Fremdsprachenwettbewerben und Jugend Forscht in Biologie teilgenommen. Die Mathematik hat mich immer wieder fasziniert, genau wie die Musik. Allerdings fehlte bei der Mathematik eine Ebene: während hier die Faszination rein kognitiv passiert, ist in der Musik die hohe Identifikation mit der Sache selbst und die hohe Emotionalität der Grund, weshalb ich bei dieser „Kopf-Herz-Entscheidung“ doch auf mein Herz hören musste. Ich wusste einfach, dass ich ohne Musik nicht leben kann.
Wieviel Mathematik ist in der Musik?
Musikalische Architektur ist oft mathematisch. Dies kann man vor allem bei alter, aber auch bei neuer Musik beobachten. Bei der Erarbeitung beziehungsweise Analyse von Werken ist oft eine mathematische Herangehensweise sicherlich von Vorteil, jedoch versuche ich das hier Erarbeitete dann auch schnell wieder zu „vergessen“, wenn ich mit den Werken auf die Bühne gehe. Also gehe ich eigentlich in dem Moment, in dem ich die Bühne betrete, davon aus, dass alles, was ich über das Stück weiß und gelernt habe, „sowieso irgendwo unterbewusst da ist“ und bin voll und ganz in einem Zustand, in dem ich die Musik dann neu entdecken und intuitiv und emotional erspüren möchte. Mein Motto: Kalter Kopf, kalte Finger, heißes Herz!
Inwiefern beschäftigen Sie sich heute noch mit Mathematik und Naturwissenschaften?
Zugegebenermaßen: Mit Mathematik beschäftige ich mich im Vergleich zu der Zeit meines „Jungstudiums“ nur noch sehr wenig. Ich nutze das, was ich gelernt habe, häufig, aber das ist dann ganz allgemeiner und unbewusster Natur, oft merke ich es selbst erst, wenn ich von meinen Freunden darauf aufmerksam gemacht werde, dass sie bei bestimmten Gedankengängen nicht ganz folgen können, wenn ich gewisse (mathematische) Schritte überspringe. Für Naturwissenschaften interessiere ich mich sehr und lasse mich nach wie vor gerne von neuen Erfindungen überraschen.
Wie stehen Sie als analytisch denkender Mensch zur zeitgenössischen Musik?
Zugegebenermaßen sehe ich mich selbst absolut nicht als analytisch denkenden Menschen. Natürlich habe ich einen Kopf auf den Schultern, aber die großen und wichtigen Entscheidungen treffe ich immer mit dem Bauch (beziehungsweise mit dem Herzen). Mir ist es immer wichtig, seelisch mit mir selbst im Reinen zu sein und daher lebe ich auch nach dieser Ideologie, dass ich Dinge oft nicht dann tue, wenn sie eigentlich analytisch gesehen richtig wären, sondern dann, wenn sie sich für mich richtig anfühlen.
Genau das gleiche Verhältnis habe ich zur zeitgenössischen Musik. Ich finde einige neue Entwicklungen interessant und bin beeindruckt davon, was Menschen alles komponieren können. Vor allem, weil ja auch ich selbst komponiere! Viele zeitgenössische Komponisten vergessen allerdings vor lauter Entdeckungswahn das, was ich vorhin erwähnt hatte: die emotionale Botschaft. Sie fühlen sich so sehr unter dem Druck, etwas ganz Neues, etwas ganz Eigenes zu schaffen, was keiner vor ihnen je geschrieben hat, dass sie Dinge komponieren, die oft selbst uns Musikern keinen Spaß mehr machen – geschweige denn dem Publikum.
Ich selbst habe einmal eine bezeichnende Erfahrung bei der Uraufführung eines neuen Werkes eines nicht unbekannten Komponisten gemacht: selbst nach zwei Wochen intensiver Beschäftigung mit dem Stück hatte ich trotz aller versuchter Emotionalität, Mathematik und Analyse nicht das Gefühl, das Stück verstanden zu haben. Bei so etwas stellt sich mir dann die Frage: Was soll das Publikum, das in der Regel nicht Musik studiert hat und sich außerdem nicht zwei Wochen mit dem Stück beschäftigen konnte, sondern es zum ersten Mal hört, mit dieser Komposition im Konzert anfangen?
Welche Epoche steht Ihnen persönlich am nächsten und warum?
Ich gehöre nicht zu den Musikern, die sich gerne auf eine Epoche oder einen Komponisten als Spezialgebiet limitieren lassen. Schon vor dem Studium – und im Studium dann umso mehr – war es mir immer sehr wichtig, möglichst viel Repertoire aus unterschiedlichen Epochen zu lernen, um dann auch mehr über den Komponisten, die Zeit und die Entwicklung zu wissen. Durch mein Studium bei Vladimir Krainev und der damit verbundenen Neuhaus-Schule, der auch Pianisten wie Sviatoslav Richter, Emil Gilels und Radu Lupu entstammen, wurde ich darin bestätigt. Diese vier großen Pianisten, die ich definitiv als Vorbilder für mich sehe, haben sich nicht abstempeln lassen, sondern sind ihrer Neugier und künstlerischen Intuition gefolgt und auch ich möchte versuchen, diesen Weg zu gehen. Ich kann jeder Epoche etwas ganz Eigenes abgewinnen und je nachdem, in was für einem Lebensabschnitt oder was für einer emotionalen Phase ich mich gerade befinde, bevorzuge ich die eine oder die andere. Dies spiegelt sich in meinem Konzert, das ich in der Tonhalle Maag in Zürich spielen werde (Beethoven, Liszt, Wagner und Ravel), aber auch in meiner Diskographie wider: Von Mozart, Hummel, Beethoven, Chopin und Liszt über Schumann, Schubert, Mendelssohn und Rachmaninov bis hin zu Ravel ist alles dabei. Und ich bin lange noch nicht fertig!
Sie haben auch selbst komponiert. Komponieren Sie immer noch und was für Erfahrungen haben Sie dabei gemacht?
Ich habe immer mal wieder komponiert, aber es eigentlich nur freizeitmäßig betrieben. Es war eine interessante Abwechslung, nicht nur zu interpretieren, sondern etwas ganz alleine von Grund auf neu zu schaffen. Vor allem für Streichquartett und Orchester habe ich viel geschrieben, aber bisher nur eine einzige Komposition für Klavier Solo veröffentlicht. Sie heißt „Lullaby“, die ich einem engen Bekannten, welcher großer Freund von Filmmusik war, gewidmet habe. Diese Komposition hat in letzter Zeit einiges an Aufmerksamkeit erregt, da ein amerikanischer Filmproduzent auf sie aufmerksam geworden ist und ich nun mein erstes Musikvideo mit genau diesem Stück veröffentlicht habe.
Sie engagieren sich in Projekten, die Kindern und Jugendlichen Zugang zur klassischen Musik verschaffen. Können Sie uns von diesen Projekten erzählen?
Sogenannte Education-Projekte sind für die Klassik essentiell! Ich persönlich mache sie bei meinem eigenen Festival, in Kooperation mit vielen Konzerthäusern, aber auch für „Rhapsody in School“: Wenn ich ein Konzert habe und es sich zeitlich anbietet, gehe ich oft vormittags in allgemeinbildende Schulen und spiele den Schülern ein wenig vor. Wir sprechen über mich, meinen Beruf, wie ich Pianist geworden bin und darüber, ob ich auch mal Heimweh habe, wenn ich so viel unterwegs bin. Wenn man erstmal mit den Kindern warm geworden ist, was in der Regel keine fünf Minuten dauert, dann merkt man, dass sie viel wissen wollen. Die meisten Kinder sind nicht an der Klassik desinteressiert, weil sie sie langweilig finden, sie haben lediglich keine Berührungspunkte mit unserer Welt. Ich sehe immer wieder, wie ein Großteil dieser Kinder dann am nächsten Tag im Konzert sitzt. Genau da wollen wir hin – Kinder und Jugendliche so sehr für die Musik begeistern, dass sie sich autark entschließen: „Das will ich jetzt auch in einem richtigen Konzert erleben!“
Sie sind noch jung. Welche Visionen für unsere Welt haben Sie?
Die Welt ist gerade im Umbruch, an vielen Ecken passieren neue Dinge, neue Bewegungen formen sich. Einiges geht sehr in die positive Richtung, andere Sachen absolut nicht. Ich wünsche mir, dass jeder Mensch bei der Entscheidung seiner Sympathie die Fähigkeit hat, auf sein Herz zu hören und sich nicht von der einfachen Rhetorik einiger weniger mitreißen lässt. Menschen handeln dann besonders stark, wenn sie mit dem Herzen dahinterstehen und das ist meine Vision für unsere Welt.
Was wünschen Sie sich für Ihre Pianistenkarriere?
Ich wünsche mir, dass ich weiterhin die Möglichkeit erhalte, in Konzerten meine Kunst mit meinem Publikum teilen zu dürfen. Außerdem hoffe ich, mich auch mit 30 immer weiter entwickeln zu können, neues Repertoire zu lernen, Neues in der Musik zu entdecken und die Energie, die ich zurzeit spüre, wenn ich am Flügel sitze, nie zu verlieren.
Interview von Florian Schär | Classicpoint.net | 1.12.2019
Fotograf: © Henning Ross
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